Rezension

Mit den Augen der Anderen sehen lernen

Das innere Auge - Oliver Sacks

Das innere Auge
von Oliver Sacks

Bewertet mit 5 Sternen

1985 beschrieb Oliver Sacks in "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" ungewöhnliche und bis dahin kaum beachtete neurologische Krankheitsbilder in Fallgeschichten. Der in England geborene Neurologe beeindruckte durch seine Anteilnahme am Schicksal seiner Patienten und durch sein Talent, medizinische Zusammenhänge einem breiten Publikum verständlich zu vermitteln. Der Tag, an dem mein Bein fortging zeigte den Autor in der Rolle des Patienten, der sich in einem fensterlosen Zimmerchen seinen Ärzten ausgeliefert fühlt. Sacks Sichtweise hat sich seitdem nicht nur durch eigenes Erleben als Patient verändert. Die ungewöhnlichen Krankengeschichten seiner Patienten von damals lassen sich inzwischen durch bildgebende Untersuchungsverfahren (CT, MRT) konkreten Hirnarealen zuordenen.

Mit "Das innere Auge" setzt Sacks Reihe der Patientengeschichten fort. "Vom Blatt spielen", das berührende Schicksal der Pianistin Lilian Kallir, die Noten zwar sehen, aber ihre Bedeutung nicht mehr lesen konnte (musikalische Alexie, Notenblindheit), zeigt Lilians weit über eine bloße Bewältigung ihrer Erkrankung hinausgehende Strategien, um trotz ihrer Behinderung weiter ihren Beruf ausüben zu können.

"Ins Leben zurückgerufen" erzählt von Patricia, die als Folge eines Schlaganfalls einen vollständigen Verlust der Sprache (Aphasie) erlitt. Nach geduldiger Therapie kann Pat, die Frau die nach Ansicht ihrer Töchter 24 Stunden am Tag redete, inzwischen mithilfe ihrer ausdrucksvollen Gestik und eines Bildlexikons erstaunlich intensive Gespräche führen.

Der kanadische Schriftsteller Howard Engel verarbeitete seine Schriftblindheit (Alexie) nach einem Schlaganfall, der die Sehrinde beeinträchtigte, indem er auch seinen Krimihelden Benny Cooperman eine Alexie erleiden lässt. Engel setzt inzwischen zum "Schreiben" Geschichten aus den Bildern in seinem Kopf zusammen; er kann seine Texte selbst jedoch nicht lesen (The Man Who Forgot How to Read).

Oliver Sacks selbst leidet unter einer seltenen Wahrnehmungsschwäche, er ist gesichtsblind (Prosopagnosie) und kann sich nur schwer räumlich orientieren. Gesichtsblindheit, bei der die Betroffenen sich selbst kaum im Spiegel erkennen können, wurde zunächst von anderen als bloße Exzentrik abgetan. Dass Sacks Bruder Markus ebenfalls gesichtsblind ist, (wie auch die bekannte Primatenforscherin Jane Goodall), lässt vermuten, dass die meisten Fälle angeboren und nur wenige erworben sind. 2005 erkrankte Sacks an einem Melanom des Sehnervs. Während der Behandlung musste der Autor sich mit der Entscheidung für die Behandlung der Krebserkrankung mit dem Verlust der Sehfähigkeit des betroffenen Auges abfinden. Der Verlust der Sehfähigkeit eines Auges beeinträchtig die Tiefenwahrnehmung. Gegenstände scheinen dem betroffenen Patienten überraschend entgegenzuspringen oder die Person gießt z. B. den Wein eine Armlänge vom Glas entfernt auf den Boden. Sacks füllte in der Zeit seiner Erkrankung mehrere Tagebücher mit seinem Erlebnissen als Patient. Ängste, Ungeduld, Selbstvorwürfe, Schmerzen, Hilflosigkeit wechseln in seiner minutiösen Selbstbeobachtung miteinander ab. Das abschließende Hörbuch-Kapitel "Das innere Auge" verdeutlicht, warum der Autor so ausführlich von der eigenen Gesichtsblindheit berichtet hat. Ein Gesichtsblinder kann sich anders als andere Erblindete keine Bilder oder Gesichter in Erinnerung rufen. Während andere Blinde ganze Landschaften und auch Farben vor ihrem inneren Auge entstehen lassen, herrscht für einen Gesichtsblinden, der seine Sehfähigkeit verliert, nur Schwärze.

Der Autor setzt sich mit Biografien prominenter Erblindeter auseinander
- Hull: Im Dunkeln sehen. Erfahrungen eines Blinden,
- Zoltan Torey: Out of Darkness,
- Sabriye Tenbirken: Mein Weg führt nach Tibet. Die blinden Kinder von Lhasa,
- On Blindness: Letters Between Bryan Magee and Martin Milligan und
- Suzan R. Barry: Fixing My Gaze: A Scientist's Journey Into Seeing in Three Dimensions.

Suzan R. Barry wurde als Kind wegen ihres Schielens operiert und bemerkte erst mit Ende 40, dass sie zunehmende Probleme beim Sehen hatte. Sie hatte die Welt für das gehalten, was sie wahrnehmen konnte. Erst durch Korrektur mithilfe eines Prismas erkennt Suzan die Kluft zwischen Wissen durch Beschreibung und eigenem Erleben. Im abschließenden Kapitel untersucht der Autor den Einfluss der Erinnerung auf die visuelle Vorstellung und die Prägung unseres Gehirns durch Erfahrung. Er recherchiert, ob bildliche Vorstellungskraft Teil unseres Denkens ist und wie jemand denkt, der über diese Bilder nicht verfügt.

Oliver Sacks Geschichten lehren uns, wertzuschätzen was Anderen fehlt und mit den Augen dieser Anderen zu sehen.