Rezension

Mutige vor! Fordernde Lektüre sucht passende Leser:innen.

Ich und Jimmy -

Ich und Jimmy
von Clarice Lispector

Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. Ganze 30 Erzählungen versammelt das auf den ersten Blick sehr schön gestaltete Büchlein des Verlags. Diese sind entweder aus der Sicht einer oder über eine weibliche Figur geschrieben und befassen sich mit den Bedürfnissen, Wünschen sowie (Nachtschlaf-)Träumen aber auch Alltagserlebnissen ebendieser Mädchen und Frauen. Nun sind Träume ja meist sog. „zerrissene Geschichten“ und genauso verhält es sich auch mit den Erzählungen von Clarice Lispector.

Viele der Erzählungen wirken wie intellektuelle Fingerübungen der Autorin. Häufig hat sich eine in den Texten verpackte Aussage, eine Message für mich nicht herauskristallisieren können. Häufig war für mich unklar, wohin es gehen soll mit diesen Frauen aus der Oberschicht Brasiliens. Am Ende fast jeder Geschichte standen für mich große Fragezeichen, die jedoch nicht zur weiteren Beschäftigung mit dem Gelesenen anregen konnten. Selten wurde ich emotional berührt. Dies schaffte im Rückblick betrachtet allein die zweite Geschichte des Bandes „Die Flucht“, in welcher eine Ehefrau zumindest für einen Tag den Mut aufbringt, ihrem Ehemann und der Ehe den Rücken zu kehren und beginnt zu träumen. Von der Flucht aus Zwängen, Gedankengefängnissen und Alltag hin zu einem Leben in Übersee. Sie muss, aufgrund der wenigen einer Frau zu dieser Zeit (schätzungsweise 1940er Jahre) zur Verfügung stehenden Mittel und Freiheiten ihre Flucht abbrechen. Eine traurige einprägsame Geschichte, die nachhallt. Ein Großteil der restlichen Geschichten bleibt jedoch Arbeit für die Lesenden. Das muss nicht per se etwas Schlechtes bedeuten, ist in diesem Falle über das gesamte Buch hinweg jedoch eine äußerst ermüdende Arbeit. Immer wieder verstecken sich in den hoch anspruchsvollen Geschichten kleine, stilistisch wunderschöne Miniaturen. Sätze, die aber durch darauffolgende Formulierungen wieder verblassen ob ihrer Schönheit. Frau Lispector ist demnach durchaus eine begabte Autorin gewesen. Nur das Publikum sollte auch zu ihren Arbeiten passen. Man sollte sich auf Hochliteratur und äußerst kafkaeske Szenarien und Formulierungen einstellen, wenn man sich an diese anspruchsvolle Autorin heranwagt, denn es gibt nicht wenige Geschichten, in denen fast jeder Satz ein Rätsel ist, welches häufig ungelöst bleiben muss. So die wild assoziierte Geschichte um einen nächtlichen Traum „Wo wart ihr in der Nacht“ als exzentrischer „Höhepunkt“ der Sammlung mit Sätzen wie: „Doch sie streuten gemahlene Pfefferschoten auf ihre Genitalien und krümmten sich vor brennendem Schmerz. Und plötzlich der Hass. Sie brachten einander nicht um, verspürten aber einen so unerbittlichen Hass, dass es war, als träfe ein Wurfpfeil einen Körper. Und sie jauchzten, verdammt durch das, was sie spürten. Der Hass war Erbrochenes, das sie von einem größeren Erbrochenen befreite, dem Erbrochenen der Seele.“ (Definitiv die Geschichte, durch welche ich mich am meisten quälen musste.)

Um schon einmal ein Resümee zum Inhalt und Stil der Kurzprosa zu ziehen: Aufgrund der durchwachsenen Leseerfahrung würde ich an diesem Punkt als Bewertung 3 Sterne vergeben. Allerdings ist meines Erachtens hier die Ausgabe des Manesse Verlags als Gesamtheit zu betrachten und auch so zu bewerten:

Wie schon erwähnt, ist das Büchlein wirklich sehr hübsch gestaltet und liegt in seinem kleinen Format gut in der Hand. Allerdings gibt es meiner Meinung nach an einigen Stellen Minuspunkte in der editorischen Arbeit. So ist am augenscheinlichsten, dass sich an keiner Stelle im Buch oder auf dem Schutzumschlag biografische Angaben zur Autorin finden lassen. Wer das Buch im Buchladen zur Hand nimmt und noch nichts zur Autorin weiß, könnte nicht einmal das Geburts- und Sterbejahr zur groben historischen Einordnung erfahren! Bei egal welcher Lektüre ist das für mich eine absolute Grundlage für jede Buchveröffentlichung. Ich möchte einfach nicht eine Internetsuchmaschine für die aller grundlegendsten Informationen bemühen müssen. Darüber hinaus sind auch die einzelnen Geschichten nicht mit einer Jahreszahl versehen, sodass man sie historisch und biografisch einordnen könnte. Allein, dass sie chronologisch geordnet seien, erfährt man ganz zum Schluss der Lektüre, mehr aber auch nicht. Gerade ein Sammelband zu einer modernen Klassikerin sollte diese Einordnung anhand von original Veröffentlichungsjahren doch ermöglichen. Des Weiteren schwanken die zu den Geschichten vorhandenen 83 Anmerkungen, welche laut editorischer Notiz in Zusammenwirken aus Übersetzer und Manesse Verlag entstanden sind, stark in ihrer Qualität und Nachvollziehbarkeit. So geben viele Anmerkungen durchaus für das Verständnis der Sätze Lispectors wichtige Hinweise bezüglich genutzter Zitate, Anspielungen und genannten Personen. Andererseits fragt man sich, warum man den Lesenden dieser anspruchsvollen Geschichten nicht mehr Allgemeinwissen zutraut und extra erläutert wird, wer Händel, Kissinger oder Édith Piaf waren; und ein ausgerufenes „Viva!“ mit der Anmerkung versehen wird: „Port. «Leben!»“. An anderer Stelle erscheinen die Anmerkungen dann genauso wenig selbsterklärend und kryptisch wie der Text von Lispector selbst. Da klafft etwas in der Auswahl der Anmerkungen meilenweit auseinander, was den Lesefluss durchaus stört.

Schweren Herzens kann ich somit in der Gesamtheit dem Buch nur eine 2-Sterne-Bewertung geben, da es mir zu viele Punkte Abzug für die formelle Gestaltung gab. Das Buch würde ich nicht pauschal verurteilen und von der Lektüre ist durchaus nicht von vornherein abzuraten. Aber jede Person mit Interesse an der Autorin sollte sicherheitshalber in einem Buchladen mal aus dem ersten, dem mittleren und dem letzten Teil des Buches eine Geschichte lesen, um abschätzen zu können, ob die Lektüre wirklich für einen selbst passt. Die digitale Leseprobe, welche lediglich die ersten drei der insgesamt 30 Geschichten abbildet, ist definitiv noch keine valide Quelle für eine gute Entscheidung.

Also heißt es nun: Mutige vor! Diese fordernde Lektüre benötigt hochmotivierte Leser:innen, die Gefallen an im höchsten Maße anspruchsvoller Literatur haben.