Rezension

Nicht das, was man erwartet

Liberty Bell - Johanna Rosen

Liberty Bell
von Johanna Rosen

Cover:
Mir gefällt das Cover sehr gut, weil es träumerisch aussieht und friedlich. Leider leitet es, genau wie der Klappentext total fehl, was die Handlung angeht.

Meinung:
Als ich von dem Buch hörte, klang es wirklich interessant und anders. Ich assoziierte die Handlung, so wie Klappentext und Aufmachung es versprachen, ein wenig mit dem Film „Nell“, in dem Geschwister im Wald aufwachsen, abseits jeglicher Zivilisation und sich das „normale“ Leben erst erarbeiten müssen.
Dass das Buch aber eigentlich ein Thriller ist, kam mir zu keiner Zeit in den Sinn.
Ernesto und seine Freunde (mit teilweise unlesbaren Namen) leben in einer kleinen Stadt in Oregon. Langweile bestimmt den Alltag der Jungs, die sich auf ihre ersten sexuellen Erfahrungen vorbereiten und auch sonst nur Schwachsinn im Kopf haben. Als eines Tages Ronan ein Video von einem nackten Mädchen rumgibt, welches einsam im Wald lebt, ist den Jungs klar, dass sie das Mädchen nochmal suchen wollen. Doch als sie Liberty Bell finden, überschlagen sich die Ereignisse.
Ich hätte das Buch die ersten 100 Seiten lang am liebsten weggelegt. Der Schreibstil ist furchtbar. Er ist so plump, so dahin gerotzt und spiegelt leider nur zu gut die Charaktere wider, mit denen ich von Anfang bis Ende nicht wirklich warm geworden bin. Danach legte sich diese Abneigung ein wenig, sodass ich zumindest sagen kann, dass es für mich erträglich wurde, aber gefallen tat der Stil mir nicht.
Die Jungs sind leider sehr stereotypisch und durchweg fast nur negativ gezeichnet. Ich weiß nicht, wie oft erwähnt wurde, dass die Freunde sich über den Mundgeruch des Hundes aufregten, dem einer von ihnen gehört, aber diese Passagen kamen mir im Gegensatz zu anderen Dingen viel zu häufig vor. Das störte mich. Sympathie gegenüber den Figuren konnte ich nicht aufbauen. Alle wollen nur raus aus ihrem selbsternannten Kaff, ein Abenteuer erleben, irgendein Mädel aufreißen oder trinken. Manche Rituale fand ich ganz witzig, aber eigentlich waren ihre Zusammenkünfte langweilig und furchtbar primitiv. Wirkliche Freundschaft konnte ich zwischen den Figuren auch nicht erkennen, da sie alle nur gezwungenermaßen miteinander abhängen.
Als die Jungs dann Liberty Bell finden, passieren heftige Dinge, mit denen ich so nicht gerechnet hätte. Es tun sich Abgründe in Psyche und Verhalten mancher Figuren auf und es wird brutal. Wirklich brutal. Das hätte ich bei dem Buch nie erwartet. Ich dachte, es geht hauptsächlich darum, Liberty Bell als Mensch, der außerhalb von der Zivilisation lebt, wieder in das Leben der Menschen zu integrieren. Aber darum ging es in keinster Weise. Das Buch heißt zwar so, aber eigentlich spielt ihre Figur kaum eine Rolle. Eher das, was mit ihr zusammenhängt.
Zuerst war ich enttäuscht, weil ich diesen eben angesprochenen Aspekt viel spannender gefunden hätte und weil Liberty Bell blass bleibt. Sie ist schüchtern und spricht seltsam, ist aber auch tough und weiß sich zu wehren. Das ist aber auch alles, was ich etwas dürftig finde. Doch dann passieren einige Dinge, die meine Meinung wieder umwarfen. Ich war zwar nicht begeistert von dieser Wendung, aber sie wirkte nicht konstruiert, sodass es glaubhaft war. Ich hatte also nichts in der Hand, um mich weiter dagegen zu sträuben. Als mein Widerstand gebrochen war, fand ich es spannend und merkte, dass ich das Buch nicht zur Seite legen konnte. Man möchte mit Ernesto herausfinden, was sich hinter dem Familiengeheimnis um Liberty Bell verbirgt. Was haben seine Freunde damit zu tun? Warum verhalten sich diverse Menschen im Umkreis der Clique seltsam?
Das Ende war schockierend. Gleichzeitig auch etwas unzufriedenstellend, weil es nach der Auflösung abbrach. Ich hätte es toll gefunden, wenn ein Epilog existiert hätte, so nach dem Motto „2 Jahre später“. Denn die Figuren sind aufgewühlt und durcheinander, sie wissen nicht, was sie tun sollen und in so einem Stadium zurückgelassen zu werden, ist nicht schön. Dennoch habe ich als Leser alles erfahren, was ich erfahren musste, von daher kann ich damit leben.

Fazit:
Alles in allem sollte man an das Buch ohne Erwartungen herangehen, damit man nicht in die gleiche Falle tappt. An sich fand ich das Buch gut, weil es spannend war und sehr gute Personenkonstellationen besaß, die die Handlung steuern und nicht durch den Willen des Autors funktionieren. Doch die Figuren sind durchweg unsympathisch, der Schreibstil schwierig und meine Erwartungen nach Lesen des Klappentextes hatten mich so fehlgeleitet, dass das Lesen des Buches insgesamt sehr schwer war.