Rezension

Östliches und westliches Konzept von Liebe

Die indonesischen Schwestern - Sandra Wöhe

Die indonesischen Schwestern
von Sandra Wöhe

Bewertet mit 4 Sternen

Phyllis fand in Deutschland alles falsch. Banenblätter, die Phyllis beinahe täglich im Haushalt brauchte, wuchsen in der Gegend nicht. Sie konnte sich nie sicher sein, ob die Geister nicht verärgert sein würden, weil Phyllis deutsche Nachbarn ohne Rücksicht auf die Geisterwelt ihre Teller ratzekahl leer aßen. In diesen regellosen Zustand hinein sollte nun zu Hause Phyllis erstes Enkelkind geboren werden. Die Hebamme war viel zu jung, sicher noch unter vierzig, voller merkwürdiger Vorstellungen über Babys. Nach einem Leben in Indonesien würde es Phyllis hier am Niederrhein in der Nähe der holländischen Grenze schwerfallen, sich in das absurde Denken der Menschen zu finden. Der plötzliche Tod ihres Mannes hat Phyllis und ihre drei Töchter nach Deutschland gebracht. Die Familie spricht deutsch und fühlt sich deutsch, doch ihr Denken ist von indonesischen Traditionen bestimmt. So regt sich Phyllis nicht groß darüber auf, dass Yasmin mit kaum 16 Jahren ein Kind zur Welt bringt, schließlich war sie selbst in dem Alter von ihren Eltern bereits fürsorglich verheiratet worden und ebenfalls schon Mutter. Mit dem feinen Unterschied, dass Phyllis in Indonesien in einem wohlhabenden Haushalt mit Personal und Kindermädchen lebte und keinem ihrer Kinder je selbst eine Windel wechseln musste.

Trotz der typisch deutschen Unberechenbarkeiten kommt Phyllis Enkelin gesund zur Welt. Vom Vater des neugeborenen Mädchens wird nicht gesprochen; der Weiberhaushalt nimmt die Erziehung der kleinen Rennwindel gemeinsam in die Hand. Mutter und Töchter hadern jede auf ihre Art mit dem Kultur-Schock in ihrem katholisch geprägten Dorf. Für Phyllis ist es nicht leicht zu ertragen, dass ihre Töchter sich einfach spontan verlieben und von ihr neuerdings Begründungen für heimatliche Traditionen fordern. Die Töchter bewerten die meisten Werte ihrer Mutter inzwischen als Aberglauben aus Indonesien. An ihrem neuen Wohnort möchten sie alles richtig machen und dazu muss der Ballast von früher aus ihrem Leben gekehrt werden. Gritta, die mittlere Tochter, erfährt, dass sie als Tochter ohne Vater und als Schwester einer minderjährigen Mutter in der Schule nichts zu lachen hat. Als die kleine Kiwi in den Kindergarten kommt, wird von Phyllis als Erziehungsberechtigter sehr direkt mehr Anpassung an die Sitten der Gemeinde gefordert, aber Phyllis funktioniert nicht wie gewünscht. Phyllis kann sich so deutsch fühlen, wie sie will, sie wird hier als Ausländerin betrachtet und für alle Hiobsbotschaften dieser Welt verantwortlich gemacht.

Die Geschichte der drei Schwestern aus Indonesien erzählt Sandra Wöhe in vier Kapiteln, zwischen denen jeweils ein gutes Jahr vergangen ist. Die Momentaufnahmen (die das Familienleben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen beschreiben) lenken die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Beziehungen, aber auch auf unveränderte Einstellungen. Phyllis hat den Tod ihres Mannes noch nicht verwunden; die Welt der Geister und indonesische Traditionen bestimmen nach wie vor das Familienlleben. Mit einem Jahr krabbelt und brabbelt die kleine Kiwi bereits vergnügt, während Kiwis Mutter und Tanten mit Schule und Ausbildung beschäftigt sind. Phyllis fragt, wie es sich für sie gehört, noch immer jeden Besucher, ob er schon gegessen hat. Yasmin, die junge Mutter, hat nach mehreren Jahren in Deutschland noch immer das Alltagssummen Indonesiens im Ohr. Dass sie die sichtbare nicht mit der unsichtbaren Welt in Einklang bringen kann, weil ihr innerer Kompass gestört ist, lässt befürchten, dass Yasmin an etwas leidet, das europäische Ärzte nicht kurieren können. Während Jola sich heftig in die Fotografin Viktoria verliebt hat, kokettiert Gritta mit dem Islam, der Religion ihrer besten Freundin.

"Die indonesischen Schwestern" wirkt durch seine metaphernreiche Sprache und seine charakteristischen Redensarten aus der indonesischen Kultur auf mich wie ein Wohlfühlbuch. Sandra Wöhe erzählt die Geschichte der Frauen mit samtenem Humor, der sich an der Oberfläche weich anfühlt und die darunter versteckten Spitzen zunächst verbirgt. In Phyllis konnte ich mich sehr gut hineinversetzen und erlebte gemeinsam mit ihr, wie das starre deutsche Werte- und Bildungssystem sie so behandelte, als hätte sie selbst keine Werte. Phyllis angedeuteten Zynismus und die Lässigkeit, mit der sie manches hinnimmt, das sie nicht ändern kann, habe ich bewundert. Wie kann jemand, der so bild- und märchenhaft denkt, in Deutschland je heimisch werden, habe ich mich gefragt. Überhaupt nicht gefallen hat mir der Schluss des Romans, in dem nach meinem Geschmack in der Beziehung zwischen Jola und Viktoria zu hastig noch einige Botschaften untergebracht werden sollten. Phyllis Innenwelt und die Gedanken ihrer Töchter liefern mir auch ohne diesen Schluss genug Stoff zum Nachdenken.