Rezension

Oslo 1940-45: Wenn Kinder die Familie ernähren

Die Unwürdigen -

Die Unwürdigen
von Roy Jacobsen

Bewertet mit 4.5 Sternen

Carl, Olav und Roar sind der harte Kern einer Jungenbande im von den Deutschen besetzten Oslo (1940-45). Sie sind noch schulpflichtig, müssen jedoch  jüngere Geschwister versorgen und zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen. Sie sammeln Flaschen und Altpapier und lassen nichts liegen, das sich reparieren und verscherbeln lässt. Dass sie ihren Verdienst ihren Müttern abliefern, ist  Ehrensache. Carl trägt in aller Frühe Zeitungen aus und organisiert auf dem Rückweg Kohlen und Lebensmittel. „Mamme“, seine Mutter, fragt nicht, was er treibt, und Carl fragt besser ebenfalls nicht, wohin seine Eltern verschwinden. Solange ein Junge einer glaubwürdigen Arbeit nachgeht wie Carl und nur Lebensmittel stiehlt, lässt man die Clique vermutlich in Ruhe. Doch die Drei sind sich bewusst, dass man sie besser nicht zusammen sehen sollte. Als Carls Vater unter verdächtigen Umständen auf einer Polizeiwache ums Leben kommt, hinterlässt er seinem Sohn einige offene Fragen, eine besondere Landkarte und ein Codewort, mit dem Carl sich bei den deutschen Besatzern um Arbeit bewerben kann.

Der Junge ist ein fixer Rechner und erfahrener Schachspieler; doch er kann zunächst nur schwer einordnen, was er in der Logistikzentrale der Besatzungsmacht erlebt. Im alten Leben muss er einsehen, dass wertvolle Gegenstände sich schwerer verkaufen lassen als ein neu lackiertes Fahrrad – und dass seine Geschäfte nicht ungefährlich sind, selbst wenn ein Mittelsmann tätig wird. Als die Jungen das kleine Reparatur-Imperium von Olavs Vater Aron/Arne auf dem gemeinsamen Dachboden ihrer Häuserreihe entdecken, dauert es zu lange, bis der Groschen fällt – und sie die Gefahr erkennen, die ihnen droht.

Roy Jacobsen beschreibt das Leben in einem Osloer Arbeiterviertel sehr sinnlich und atmosphärisch, ein Stadtteil, in dem die meisten Familien mit 5 Personen in einem Zimmer leben. Als Leser hört, sieht und riecht man förmlich mit. Milieu, und Familienbeziehungen lässt Jacobsen seine Leser:innen so detailreich erleben wie in einem Familienroman. Wenn niemand überhören kann, was in den Nachbarwohnungen passiert, ist es gerade in einem besetzten Land überlebenswichtig, sich unwissend zu stellen. Carl, Olav und Roar halten sich zunächst an diese Weisheit, ohne zu wissen, dass damit zugleich  die Widerstandsbewegung gegen die Besatzer geschützt wird.

Fazit

Die immer leichtsinnigeren Raubzüge der Jungen wirken zunächst wie eine historische Abenteuergeschichte in schweren Zeiten, doch je mehr verdächtige Erwachsene im Umfeld der Jungen auftauchen, umso gefährlicher wird ihre Situation. Jahre später sind die Beteiligten in alle Winde zerstreut – und erst jetzt fällt für Carl zum Verstehen das letzte Puzzlestück an seinen Platz. Inzwischen geht es nicht mehr um Kohle für den Küchenherd, ein gefundenes Fahrrad und wer die kleinen Geschwister versorgt, sondern um Verrat, Rache und  darum, ob Kinder und Jugendliche nach einem Krieg im Alltag wieder Fuß fassen können. Ein ernüchternder, dicht erzählter Roman.