Rezension

"Schneewittchen" neu interpretiert

Winterkind
von Lilach Mer

Bewertet mit 4 Sternen

"Happy End" heißt bei den Gebrüdern Grimm, dass Schneewittchen ihren Prinzen heiratet und dass die böse Stiefmutter stirbt. Aber genügt das für ein glückliches Leben? Bei Lilach Mer heißt Schneewittchen Blanka von Rapp, ist wunderschön, mit dem Besitzer der Glasfabrik verheiratet und lebt in Niedersachsen um 1880 ein behütetes Leben hinter den Mauern des Herrenhauses. Doch die Fassade bröckelt: Blanka hat schon seit Jahren keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt; zu groß ist ihre Angststörung. Selbst zur Beerdigung ihrer Mutter müssen ihr Mann Johann und Tochter Johanna ohne sie fahren. Zurück bringen sie nur einen riesigen, unmodernen Quecksilberspiegel, den Blanka in ihrem Zimmer haben möchte. Doch mit dem Spiegel ist auch ein unheilvoller Einfluss im Herrenhaus eingezogen. Zunehmend wird Blanka von Erinnerungen an ihre unglückliche Kindheit und die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter heimgesucht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Geschäfte der Glasfabrik schlecht laufen. Johann von Rapp muss seine Frau öfter alleine lassen, und die Unzufriedenheit der Arbeiter wächst ebenso wie die dichte Schneedecke um das Herrenhaus herum. Bald sind Blanka, ihre Tochter und das Kindermädchen Sophie von der Außenwelt abgeschnitten, während Johann verreist ist und die Arbeiter ihr Geld wollen....

Aufmerksam geworden auf die Autorin bin ich durch ihren Debütroman "Der siebte Schwan", in dem sie wie auch in "Winterkind" gelungen Fantasy-Elemente und Historisches miteinander verwebt. "Winterkind" ist deutlich kürzer ausgefallen als der Vorgänger, aber dafür auch geradliniger und besser strukturiert. Langsam baut sich die Spannung auf, sowohl durch die Ereignisse in der Gegenwart (Schwierigkeiten mit der Glasfabrik und den Arbeitern) als auch durch die Rückblicke in die Vergangenheit und das Wissen, das man allmählich über Blankas Kindheit gewinnt.
Sympathiefiguren waren für mich eindeutig das besonnene, tatkräftige Kindermädchen Sophie und Johanna, die aufgeweckte Tochter der Familie von Rapp. An ihnen wird gut deutlich, wie sich der gesellschaftliche Blick auf die Rolle der Frau oder der Kinder mittlerweile verändert hat - gottseidank! Dass so ein Sonnenschein wie Johanna als vorlaut und ungezogen galt, kann man sich heute kaum noch vorstellen; von den gesellschaftlichen Erwartungen an die Frauen fange ich jetzt gar nicht erst an.
Wie auch in der "Schneewittchen"-Vorlage der Gebrüder Grimm ist der Prinz eigentlich nur schmückendes Beiwerk; die Spannung entsteht durch die Mutter-Tochter-Beziehung. Hier sogar in doppeltem Sinne, denn zunehmend muss Blanka dagegen ankämpfen, bei ihrer Tochter nicht in dieselben schädigenden Verhaltensmuster zu verfallen wie ihre eigene Mutter.
Aber auch die Mutter wird nicht eindimensional dargestellt und ist einfach "von Grund auf böse". Einerseits hat sie mir leid getan, denn erst als ihr Mann seine Aufmerksamkeit zunehmend auf andere Frauen verteilt, zwingt sie sich und ihrer Tochter ein immer rigider werdendes Programm auf, was Aussehen, Haltung und Benehmen angeht. Andererseits hat sie mit ihrer Tochter eindeutig emotionalen Missbrauch betrieben; selbst wenn man diese Szenen nur liest, läuft einem dabei ein Schauer über den Rücken.
Nun ist Blanka selbst Mutter und hat ihren "Prinz" gefunden, doch selbst nach deren Tod kann sie sich nicht von ihrer übermächtigen Mutter befreien. Im Gegenteil; deren Einfluss scheint immer stärker zu werden, seit der unselige Spiegel ins Herrenhaus gekommen ist. Kindermädchen Sophie erkennt die sonst so sanftmütige und verzagte Blanka von Rapp nicht wieder...
Gerade Blanka von Rapp ist nicht unbedingt ein durchweg sympathischer, aber sehr vielschichtiger Charakter, der im Lauf der Erzählung eine große innere Wandlung mitmacht, die spannend zu verfolgen ist.
Auf der einen Seite bedauere ich sehr, dass "Winterkind" nicht mindestens doppelt so viele Seiten hat und dass man nicht erfährt, wie es mit der Familie von Rapp und Sophie weitergeht. Andererseits kann sich jeder Leser seine eigenen Gedanken machen, wie es den liebgewonnenen Personen wohl weiter ergangen ist.
Wie Miramis schon erwähnt hat, spielen auch die bekannten Motive des Märchens eine Schlüsselrolle in der Geschichte, wenn auch nicht immer so, wie man sie kennt. Dies macht für mich gerade den Reiz von "Winterkind" aus, ebenso wie die ruhige und eindringliche Beschreibung der winterlichen Landschaft, die für die Menschen damals nichts Romantisches an sich hatte: Was, wenn das Kind krank wird, während man eingeschneit ist? Oder der Mann ist außer Haus, um Geld für die Arbeiter zu besorgen, und seine Ankunft ist aufgrund der Wetterlage ungewiss?
Lilach Mer hat mich mit ihrer besonderen Art zu erzählen wieder einmal vollkommen mit in die Geschichte hineingezogen und ich hoffe sehr, dass es nicht ihr letztes Buch bleiben wird.