Rezension

Solide Jugendliteratur mit Anspruch

Saint Anything
von Sarah Dessen

Bewertet mit 3.5 Sternen

Schon immer stand Sydney im Schatten ihres älteren Bruders Peyton - anfangs erlangte er Aufmerksamkeit durch waghalsigen Mutproben, später durch wiederholte Verstöße gegen das Gesetz. Doch selbst als Peyton in betrunkenem Zustand einen Autounfall baut, der einen unbeteiligten Jungen für immer an den Rollstuhl fesselt, sieht vor allem Sydneys Mutter Peyton immer noch als Opfer der Umstände und findet allerlei Entschuldigungen für ihn. Sydney hingegen, eine gute, unauffällige Schülerin, läuft immer nur im Hintergrund mit und wird von ihren Eltern kaum wahrgenommen. Durch einen Schulwechsel schafft Sydney es, neue Freundschaften zu schließen und zum ersten Mal nicht nur als Schwester ihres berüchtigten Bruders gesehen zu werden. Sogar eine Romanze mit dem ruhigen Bruder ihrer neuen Freundin Layla scheint in greifbarer Nähe - doch Sydneys Mutter hat Angst, dass ihre Tochter ihr genauso entgleitet wie Peyton und greift zu harten Maßnahmen...

Mitunter wird der Autorin vorgeworfen, ihre jugendlichen Protagonisten würden "zu erwachsen" denken und handeln.
Dies kann ich nicht wirklich unterschreiben, da sich gerade Sarah Dessens Protagonisten ausnahmslos in besonderen Lebensumständen befinden - sei es, dass ein Elternteil verstorben ist, die Eltern frisch geschieden sind oder wie hier der Bruder im Gefängnis sitzt. Wenn sich solche Erfahrungen nicht auch auf die Hauptperson auswirken würden, fände ich es sehr unglaubwürdig.

Trotz der ernsten Themen schafft es Sarah Dessen immer, das Etikett "Betroffenheitsliteratur" zu vermeiden, denn immer sind ihre Charaktere zwar auch- wie hier Sydney - die Schwester eines Straftäters, eine Halbwaise, Kind geschiedener Eltern usw.,  aber nur unter vielen anderen Eigenschaften. Hauptsächlich sind es Teenager, die sich ganz normale Dinge wünschen: Gemeinsame Unternehmungen mit guten Freunden, ein funktionierendes Familienleben und jemand, der an sie glaubt.

Kontrast zu der belasteten, angespannten Atmosphäre in Sydneys Elternhaus kommt durch die Chathams ins Spiel, die Familie ihrer neuen Freundin Layla. Obwohl dort das Geld deutlich knapper ist als in Sydneys Elternhaus und der sich zunehmend verschlechternde Gesundheitszustand von Laylas Mutter (sie hat Multiple Sklerose) stark auf das Familienleben auswirkt, ist dort alles viel herzlicher und lebendiger als bei Sydney. Und die Freundschaft zu Laylas ruhigem älteren Bruder Mac könnte sich zu mehr entwickeln....

Nach rund 10 Romanen tauchen in "Saint Anything" einige Anklänge früherer Geschichten wieder auf - da gibt es eine Band; Laylas Familie hat einen Pizzaservice, und Layla fällt immer auf die falschen Typen herein... Aber besser so als ganz spektakuläre, unglaubwürdige Hobbys und Beschäftigungen für jeden Charakter zu erfinden, nur damit sich nichts wiederholt.
Sehr originell und bezaubernd wiederum fand ich den Bluegrass-Abend bei Laylas Eltern, in dessen Verlauf Sydney und ihre Freunde im Wald ein verlassenes Jahrmarkt-Karussell finden (siehe Covergestaltung).
Oder der schmierige Ames, ein alter Kumpel von Peyton, der sich Uriah-Heep-mäßig immer mehr bei Sydneys Eltern einschleicht und anbietet, auf Sydney "aufzupassen", wenn ihre Eltern außer Haus sind - gruselig!!

Gut fand ich auch die Unterschiede zwischen den beiden Familien herausgearbeitet: Während Sydneys Mutter ihre Familie ständig darauf einschwört, um Peytons Willen zusammenzuhalten, so werden mit diesem "Zusammenhalt" doch nur diverse andere Probleme und Meinungsverschiedenheiten gedeckelt, die unter der Oberfläche weitergären. Laylas Familie hingegen , die mit Erkrankung der Mutter, Geldmangel und zurückliegender Medikamentenabhängigkeit der älteren Schwester zu kämpfen hat, stehen ungeachtet des täglichen Gekabbels zuverlässig füreinander ein.
Mrs.Chatham ermutigt Sydney auch, einen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen: Das Unfallopfer ihres Bruders kennenzulernen, da sie den Eindruck hat dass sich (außer ihr selbst) in ihrer Familie niemand schuldig für den Unfall fühlt.

Gegen Ende der Geschichte schafft es Sydneys Bruder zunehmend, sich gegen seine übermächtige und alles kontrollierende Mutter abzugrenzen, die selbstgerecht im Gefängnis ein- und aussegelt, als wäre es eine Grundschule. Allmählich zeigt er seiner Mutter Grenzen auf und seiner Schwester, dass er sich seiner eigenen Fehler sehr wohl bewusst ist. Diese Zwischentöne mag ich so an Sarah Dessen!
Zwar reicht "Saint Anything" (benannt nach den Schutzheiligen-Medaillons von Mrs.Chatham) nicht an ihre früheren Romane heran, bei denen ich förmlich mitgefiebert habe, wie "This lullaby", "Just listen" oder "Keeping the moon".
Aber ein solides Buch von Sarah Dessen ist immer noch ein sicherer Griff und anspruchsvoller als vieles, was mir in letzter Zeit an Jugendliteratur über den Weg gelaufen ist. Noch besser hätte es mir gefallen, wenn Sydneys schreckliche Mutter irgendwo in den Untiefen von Peytons Gefängnis verschwunden und nie wieder aufgetaucht wäre, aber man kann leider nicht alles haben.