Rezension

Sommer 1969 - was für eine Zeit!

Der Sommer meiner Mutter - Ulrich Woelk

Der Sommer meiner Mutter
von Ulrich Woelk

Bewertet mit 4 Sternen

Wie wahrscheinlich die meisten Menschen auf der Welt fiebert der 11jährige Tobias 1969 der ersten Mondlandung entgegen. Doch für ihn ist dies nicht das einzig Aufregende in dieser Zeit: Bei ihnen daheim sind nebenan neue Nachbarn eingezogen, die sich bald gut mit seinen Eltern verstehen. Und Tobias sich mit deren 13jähriger Tochter. Trotz der jeweilig sehr unterschiedlichen Ansichten vertiefen sich die Beziehungen und nicht nur Tobias macht neue Erfahrungen.
Eigentlich sind diese knapp 190 Seiten eine Tragödie, die bereits mit dem ersten Satz dargestellt wird. Doch wie es dazu gekommen ist, schildert der erwachsene Ich-Erzähler im Namen seines elfjährigen Alter Ego so abwechslungsreich und interessant, dass ich immer wieder vergessen habe, welch ein dramatisches Ende das Ganze nimmt. Vielleicht empfinden es jüngere Lesende nicht ganz so, denn vermutlich liegt es daran, dass es für mich auch eine Reise in meine Kindheit war. Ulrich Woelk lässt Tobias diese Zeit so detailgetreu beschreiben, dass ich beinahe auf jeder Seite Aha-Effekte hatte. Die typische Klein-Familie, in der die Frau Hausfrau ist, weil der Mann genug verdient und sie es nicht nötig hat zu arbeiten. Wo das Tragen einer Jeans für eine erwachsene Frau fragwürdig ist. Wo man E605 sorglos in die Obstbäume sprüht. Kaum zu glauben, dass all dies gerade einmal 50 Jahre her ist.
Tobias erzählt in kurzen Sätzen, schnörkellos und geradeheraus, so wie ich mir vorstellen kann, wie ein Junge in diesem Alter erzählen würde. Auch die Eingeengtheit seiner Mutter wird überdeutlich; wie sie gefangen ist durch die Erwartungen, die (nicht nur) ihr Sohn an sie hat und damit ihren eigenen persönlichen Wünschen nur sehr eingeschränkt gerecht werden kann. Es war keine gute Zeit für Menschen, die eine andere Vorstellung vom Leben hatten als die Mehrheit der Gesellschaft.
Insgesamt ein schönes Buch: für die Einen als Erinnerung wie es einmal war (und hoffentlich nie wieder sein wird). Und für die Anderen um zu erfahren, wie ihre Eltern aufgewachsen sind.