Rezension

Sprachschön und ergreifend

Das Haus auf dem Wasser -

Das Haus auf dem Wasser
von Emuna Elon

"Vater. Fragten ihn die anderen Kinder nach seinem Vater, erfand er Antworten für sie, die sich später als seine ersten Geschichten herausstellen sollten."
Der berühmte israelische Schriftsteller Joel Blum ist auf Lesereise in Amsterdam. Jene Stadt, in der er geboren und aus der er vertrieben wurde und die niemals zu besuchen er seiner Mutter Sonia einst schwören musste. Diese ist mittlerweile verstorben, er selbst bereits Großvater. Was können die Geister der Vergangenheit ihm noch anhaben? Doch im Jüdischen Museum macht Joel eine erschütternde Entdeckung. In Dauerschleife laufende historische Aufnahmen zeigen eine jüdische Hochzeit. Unter den Gästen erkennt er seine Mutter und den Vater, den er nur von Fotografien kennt, sowie seine ältere Schwester Nettie. Im Arm der Mutter liegt ein blondes Baby, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist - ihm jedoch kein bisschen ähnelt. Bei seiner Rückkehr nach Israel gesteht Nettie ihm (nicht uns Lesenden) das Geheimnis seiner Herkunft. 
Drei Wochen später kehrt Joel nach Amsterdam zurück, quartiert sich gegenüber dem einstigen Elternhaus in einem kleinen Hotel ein und schreibt den Roman seines Lebens... 

Emuna Elon ist mit  "Das Haus auf dem Wasser" - Deutsch von Barbara Linner @aufbauverlag - nach meinem Empfinden ein großer Wurf und eine Art von Holocaustliteratur gelungen, wie ich sie noch nicht gelesen habe. Sprachschön und literarisch anspruchsvoll, die Figuren psychologisch tief ausgeleuchtet, das historische Geschehen sorgsam recherchiert. Hinzu kommt eine Komposition, die  in ihrer Idee - Roman im Roman - nicht neu, doch außergewöhnlich konsequent ausgearbeitet ist, um die zentrale Botschaft zu transportieren: die Vergangenheit ist nicht vergangen.  Die historische Zeitebene und Joels Gegenwart wechseln in immer kürzeren Sequenzen, um schließlich innerhalb eines Satzes ineinander zu fließen. So geraten Sonia und ihre Kinder im Amsterdam des Jahres 1940 in einen Eisregen, aus dem sich Joel am Ende des Satzes in die benachbarte Kneipe rettet, in der Sonia einst aushalf, um sich und die Kinder trotz des Arbeitsverbots für Juden am Leben zu halten. 

Nicht nur stilistisch greifen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Während Joel die Lücken zwischen den in Archiven recherchierten Informationen mit Fiktivem überbrückt, erleben wir seine Verwandlung. Uralte Erinnerungen von dunklen Räumen, kalten, ratternden Böden, einer tiefen Verlassenheit neben der scheinbar teilnahmslosen Mutter tauchen an die Oberfläche und ergeben plötzlich Sinn, ebenso wie die Tatsache, dass seine Mutter in Israel jeden Kontakt mit anderen holländischen Juden mied. In Amsterdam ereilen Joel Schübe von Paranoia, als würde er all das Verdrängte im Zeitraffer nacherleben. 
   "Er weiß, dass es unlogisch ist, doch er ist sich sicher, dass ihn von allen Seiten hasserfüllte Augen anstarren. Dass alle auf ihn deuten, sich ihn gegenseitig zeigen und einander in Holländisch zurufen: Da ist ein Jude, da ist ein Jude, vernichtet den Juden, vernichtet ihn! "
 Mehr und mehr verliert Joel - überorganisiert und stets auf emotionale Distanz bedacht - die Übersicht, zugleich aber auch den Panzer, der sein Herz umschließt als ein unfreiwillig übernommenes Erbe.
Obgleich man als Lesende/r sehr früh ahnt, worauf sie hinausläuft, folgt man Joels Suche atemlos bis zur letzten Zeile. Ein Buch, das berührt, erschüttert, so viele kluge Sätze birgt und gleichzeitig eine bislang wenig beleuchtete Geschichte erzählt - die der versteckten jüdischen Kinder, die aufgrund ihrer veränderten Identität auch im seltenen Fall der Rückkehr ihrer Eltern nicht zu diesen zurückfanden. Unbedingte Leseempfehlung!