Rezension

Surreale Geschichte, die die Missstände in der Gesellschaft auf krasse Art und Weise anprangert - provozierend und schockierend, aber ohne Erklärung am Schluss.

Power
von Verena Güntner

Bewertet mit 3 Sternen

Die 11-jährige Kerze lebt zusammen mit ihrer Mutter in einem kleinen abgelegenen Dorf in Ostdeutschland, das umgeben von einem Wald ist. Als der kleine Hund der Nachbarin Frau Hitschke verschwindet, sieht es Kerze als ihren Auftrag an, Power zu finden und der Hitschke zurückzubringen - tot oder lebendig. 
Kerze nutzt ihr detektivisches Gespür, befragt Einwohner und sucht nach Spuren von Power. Als die Sommerferien beginnen, schließen sich ihrer Suche die Kinder des Ortes an und sie beginnen zu trainieren, sich wie ein Hund zu verhalten, zu bellen und zu schnüffeln, bis sie sich komplett unter der Anleitung von Kerze in den Wald zurückziehen. Die Eltern können nur hilflos zusehen, wie sich ihre Kinder absondern und machen dafür die einsame Frau Hitschke verantwortlich.

"Power" ist eine außergewöhnliche Geschichte über ein besonderes Mädchen, die überspitzt dargestellt ist. Die Handlung ist verstörend und zieht einen in ihren Bann, auch wenn man sich nicht vorstellen kann, dass so ein Szenario in Deutschland möglich ist. Die Hilflosigkeit der Erwachsenen ist dabei genauso erschreckend wie das rigorose Verhalten der Kinder, die sich sektenartig einem 11-jährigen charismatischen Mädchen anschließen, das ihnen Befehle erteilt, die sie hinnehmen, um dazuzugehören. 
Die Atmosphäre des Romans ist bedrohlich, fast schon apokalyptisch. Kerze gründet mit den anderen Kindern des Dorfes eine Art Parallelgesellschaft im Wald, führt ihr eigenes Rudel an, während die Suche nach Power in Vergessenheit gerät und die Dorfgemeinschaft an dem Kontrollverlust über die Kinder zu zerbrechen droht und wütend nach einem Sündenbock sucht. 
Das Buch ist surreal, stellt aber die Missstände der Gesellschaft nicht unrealistisch, sondern nur in einer extrem krassen Form dar. Angeprangert werden Probleme wie die Einsamkeit im Alter, Vernachlässigung, Radikalisierung, Manipulation, Alleinherrschaft und Fanatismus. 
Als Jugendbuch angelegt, ist "Power" trotz der komplexen Themen leicht zu lesen. Die Sprache ist nüchtern und reduziert, aber gerade die einfachen Erklärungen, die Kerze frech gibt, sind unglaublich pointiert und regen zum Nachdenken an. Auch wenn man während des Romanverlaufs über weite Strecken nur irritiert mit dem Kopf darüber schütteln kann, was ausgelöst durch die Suche nach einem kleinen Hund mit dem Dorf passiert, ist es eine kurze Geschichte, die mir sprachlich und aufgrund ihrer Andersartigkeit gut gefallen hat. Eine Erklärung für das Verhalten der Kinder, die sich urplötzlich einer Außenseiterin anschließen, sowie ein Ausblick darauf, welche Konsequenzen das Dorf am Ende aus dieser Abkehr von allen gesellschaftlichen Normen zieht, hätte ich mir schon gewünscht.