Rezension

Über das Leben, die Liebe und den ganzen Rest

Lucy Gayheart -

Lucy Gayheart
von Willa Cather

Bewertet mit 5 Sternen

Lucy hat ein fröhliches Naturell, sie tanzt durch den Tag – so jedenfalls haben die Bewohner ihres ländlichen Heimatortes sie in Erinnerung. Aber als sie während ihres Musikstudiums in Chicago den vom Leben enttäuschten Schubert-Interpreten Sebastian trifft, bringt gerade seine Traurigkeit etwas in ihr zum Klingen. Sie lässt sich auf eine romantische Beziehung zu ihm ein. Ihr Jugendfreund Harry ist darüber so erzürnt, dass er übereilt eine andere heiratet – was er lebenslang bereut.

Nur auf den ersten Blick ist „Lucy Gayheart“ eine bittersüße Romanze. Vielmehr verhandelt Cather in ihrem vorletzten Roman existenzielle Fragen. Die Prämisse des Romans lautet: Das Leben ist unbeherrschbar – während wir glauben, die Kontrolle zu haben. Es beginnt damit, dass es gerade für junge Menschen so unglaublich schwierig ist zu wissen, was man wirklich will – und auch, einzuschätzen, was die Menschen um einen herum tatsächlich denken und fühlen. Lucy sagt, ich werde für die Musik leben! Harry sagt, ich werde Lucy heiraten! Sebastian sagt, ich werde Konzerte in Europa geben! Aber dann verhalten sich die Menschen um sie herum nicht so wie erwartet – und es kommt anders. Hinzu kommt die unselige Eigenschaft der Menschen, wider besseres Wissen nicht das zu tun, was richtig wäre – aus Stolz, Eitelkeit, Scham, Groll. „Es ist nie zu spät!“ lautet eine beliebte Lebensweisheit. Cather beweist uns: Stimmt nicht.

Ein weiteres Thema ist die Erinnerung und das Verhältnis von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Cathers Protagonisten stehen jeweils für eine dieser Zeiten. Die stets vorwärts gewandte Lucy eilt einer vermeintlich  leuchtenden Zukunft entgegen. Das Lebensgefühl ihres Mentors und späteren Geliebten Sebastian ist nostalgisches Bedauern. Harry wiederum ist in der Gegenwart verankert; er glaubt, dass „Fakten der Grund für alles“ sind. Im letzten Teil des Romans, nach einem Zeitsprung von 25 Jahren, zieht er für sich Bilanz. Durch seine Wahrnehmung fließen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft höchst poetisch zusammen.

Drittes Thema ist die Kunst - Sebastian verkörpert den Künstler, dessen Ästhetik ihn vom Alltag abkoppelt; Lucy ist die Romantikerin, die entschlossen das Künstlertum idealisiert und buchstäblich den Boden unter den Füßen verliert; Harry ist der Materialist, der auf die harte Tour lernt, sich dem Ungreifbaren zu öffnen.

Schließlich ist es das Thema der Musik, das den ganzen Roman symbolhaft durchdringt. Zitate aus Schuberts „Winterreise“ begleiten und prophezeien Sebastians und Lucys Geschichte. Cather ist eine Meisterin der Symbolik – im Grunde müsste man den Roman zweimal lesen, um alles gebührend würdigen zu können.

Die Erzählpositionen im Roman wechseln, ohne verwirrend zu sein. Er beginnt aus der kollektiven Sicht der Dorfbevölkerung, geht über in einen allwissenden Erzähler aus unterschiedlichen Perspektiven und wird im letzten Fünftel zur personalen Perspektive Harrys. Der auktoriale Erzähler lässt keinen Zweifel daran, wie die handelnden Personen wahrgenommen werden sollen. Für eine moderne Leserin dürfte das Ausmaß an Lenkung, vor allem am Anfang, ein wenig gewöhnungsbedürftig sein. Was mich damit versöhnt hat, war die subtile, facettenreiche Figurenzeichnung und die reiche Sprache, die niemals Selbstzweck ist: Cathers poetische Naturbeschreibungen spiegeln die innere Verfassung der Protagonisten. Die Autorin macht es einem leicht, mit ihren Charakteren in Resonanz zu gehen.

Das alles erreicht eine große emotionale Tiefe; beendet habe ich den Roman in einem Gefühl melancholischer Erhebung. Selten hat mich eine Geschichte so gefesselt, selten habe ich so mit einer Romanheldin, aber auch mit den Nebenfiguren gefühlt. „Lucy Gayheart“ ist, 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen, immer noch unbedingt eine Lektüre wert.