Rezension

Über die Einsamkeit im Alter - großartiger Debüt-Roman aus Australien

Nachts, wenn der Tiger kommt
von Fiona McFarlane

Bewertet mit 5 Sternen

Ruth Field ist überzeugt davon, dass in ihrem Haus nachts ein Tiger unterwegs ist, sie kann ihn hören und riechen. Ruths kleines Strandhaus in New South Wales wirkt in letzter Zeit fremd auf seine Bewohnerin, vertraute Gegenstände scheinen in der Nacht zum Leben zu erwachen. Erst vor kurzem waren Ruth und ihr Mann aus der Stadt ans Meer gezogen, nun ist die alte Dame verwitwet, ihre Söhne leben im Ausland. Mit magischen Verknüpfungen gibt Ruth ihrem Alltag Struktur. Immer wenn drei Spaziergänger am Strand entlang wandern oder die Wellen nach einem bestimmten Muster auf den Strand treffen, muss Ruth eine bestimmte Arbeit im Haus erledigen. Ruths zunehmende Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung sind ihr ihren Söhnen gegenüber peinlich. Schließlich gibt es in Australien keine frei lebenden Tiger. Das Auftauchen des Tigers in der Nacht könnte Schlimmes symbolisieren, das auf Ruth zukommt. Ruths Söhne könnten beschließen, dass ihre Mutter wegen ihrer beginnenden Altersvergesslichkeit besser nicht mehr allein leben sollte. Für eine betagte alte Dame wie Ruth, deren geistige und körperliche Kräfte allmählich schwinden, scheint Frida ein Geschenk des Himmels zu sein. Die große, einschüchternde Erscheinung steht eines Tages vor Ruths Tür, stellt sich als vom Staat geschickte Betreuerin vor und putzt und kocht fortan hingebungsvoll für Ruth. Fridas Hautton erinnert Ruth an ihre Kindheit auf den Fidschi-Inseln, wo ihre Eltern in einer Missions-Krankenstation arbeiteten. Fidschi war auch der Schauplatz von Ruths unglücklicher Teenager-Liebe zu Richard, zu dem sie nun wieder Kontakt sucht. Frida mit ihrer alle paar Tage wechselnden Haarfarbe kümmert sich derweil um alles, selbst um Paulas Bankgeschäfte. Frida reagiert jedoch verschnupft, sollte Ruth ihren Vorschlägen nicht sofort folgen wollen. Ruth Field ist sich ihrer Hilfsbedürftigkeit bewusst, aber sie möchte gern im Einklang mit ihren Mitmenschen leben und sich nicht ständig mit Frida herumstreiten müssen. Wer vergesslich ist, wird leicht manipulierbar durch andere, die demjenigen einreden wollen, ein Thema wäre längst besprochen und man hätte es wohl nur vergessen. Je mehr Aufgaben Frida übernimmt, umso stärker schwinden Ruths Kontakte außerhalb ihres Hauses und ihr Urteilsvermögen. Frida überwuchert Ruths Haushalt wie eine schnell wachsende Lianenart. In das abgelegene Strandhaus kommen selten Besucher, niemand, der sich mit gesundem Menschenverstand fragen könnte, wer in Ruths Haushalt zu sagen hat und von wem Frida wohl für ihre Tätigkeit bezahlt wird.

Fiona McFarlane vermittelt vor der Kulisse bewölkter Tage am Meer mit beachtlicher Einfühlung die Einsamkeit ihrer Hauptfigur im Alter. Sie nimmt ihre Leser mit in die verschwimmenden Übergänge zwischen Illusion und Wirklichkeit und balanciert mit Frida auf der dünnen Grenze zwischen Hilfe und Manipulation. Eine feine Dosis Ironie verbirgt sich hinter einem wohlwollenden Erzählton und streut schon früh Zweifel, ob sich im Strandhaus die Dinge für Ruth positiv entwickeln werden.

Ein großartiger Debüt-Roman mit einer beunruhigenden Botschaft. Nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, dass es bei uns keine frei lebenden Tiger gibt ...