Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

überraschung

Null bis unendlich - Lena Gorelik

Null bis unendlich
von Lena Gorelik

Bewertet mit 3.5 Sternen

Meine Meinung: 
Meine Meinung ist genau das, meine Meinung, meine Eindrücke. Enthält Spoiler!
Nils Liebe ohne E und Liebe wie Liebe wird genau so das ganze Buch durch betitelt, von anderen wie von sich selbst, obwohl ihm das fehlende E und die Liebe zuwider sind. Hass oder Tod wäre ihm als Nachname lieber, dennoch gehört Liebe zu Nils und der Gebrauch des ganzen Namens schafft so vielleicht eine von Nils gewollte Distanz. Warm wird man mit Nils Liebe nicht, absichtlich, wie ich glaube, ist das Alleinsein ein Zustand den er sich ausgesucht hat und in dem er sich wälzt. Warum also Leser um sich scharen?! Einzig Sanela findet Zugang zu ihm. Sieht er sich selbst als Überklug und alle anderen Provinzial weil er mit 14 Jahren Musil und Ovid liest. Für den Leser erscheint er leider nur Überheblich. "Das Essen schmeckt vorzüglich." seine Mutter seufzt "Kannst du nicht einfach sagen es ist lecker?" Könnte er, aber dann wäre er ja nicht eloquenter, nicht klüger, nicht elitärer als alle anderen die er kennt. So wie die Autorin "Absenz" statt "Abwesenheit" benutzt wirkt es als wollen beide herausfordern. Wie Nils Liebe's Mutter habe auch ich die Augen verdreht und mir gesagt "Absenz? Ist das wirklich nötig?" Ja ist es. Man kann auch denken, dass Nils, auch wenn er weiss dass "Lecker" seiner Mutter angenehmer wäre, nicht aus seiner Haut kann. Für ihn ist es vorzüglich. Ich muss dann leider immer an einen Bekannten denken, der glaubt Schriftsteller zu sein, leider keinerlei Talent besitzt und seine Geschichten ertränkt in in all möglich hochtrabenden Synonyme. Ein Kumpel meinte dazu bloß "Er glaubt wenn er mit Wörtern wie Pedosphäre und opportun benutzt merkt keiner, dass er keinerlei Handlung hat". Dies ist hier allerdings nicht zu befürchten, Goreliks "Null bis unendlich" wäre auch mit der Abwesenheit des Wortes "Absenz" Handlungs-dicht genug um den Leser zu fesseln.

"Wie schnell man sich an Dinge gewöhnte, an den Anblick von Elend, zum Beispiel. Auch das Herzklopfen, wenn man die Lastwagen mit den roten Kreuzen erblickte, kannte er. Hunger. Und Heimweh. Die Menschen stehen am Straßenrand und jubeln. Sie hatten kein Heim. Er hatte mitgejubelt."

Das ernste Thema des Krieges und Sanela's Immigration wird nicht vernachlässigt und macht das Buch damit erschreckend aktuell. Dass Sanela Nils Liebe mit 14 Jahren in ein Kriegsgebiet schleppt, auf der Suche nach etwas Unmöglichen kann man noch abtun als jugendlichen Leichtsinn. Ihre Reaktion bei der Rückkehr, Nils Liebe's Eltern zerren ihn von ihr weg kommentiert sie mit "Ich hab ihn heil aus dem Krieg zurückgebracht und keiner bedankt sich". Im Laufe der Jahre wird klar, Sanela's Welt dreht sich nur um sie, und in ihrem schwarzen Loch ist kein Platz für andere. Sie sagt die Wahrheit weil sie die Wahrheit hören will, egal wie verletzend, und regt sich über ihre Mitmenschen auf, die ihre Worte nicht ertragen. In ihrem Egoismus, und später durch ihre Krankheit vergisst sie manchmal ihr Kind, vergisst dass andere Menschen auch Gefühle haben.
Null bis Unendlich ist mein erster Roman von Lena Gorelik, dementsprechend weiß ich nicht ob die anderen Bücher sprachlich ähnlich gehalten sind, für mich war ihr Stil jedenfalls positiv gewöhnungsbedürftig. Poetisch. Stellenweise prätentiös. Erster Gedanke war "Schön!". Geschmackssache. Der Schreibstil hat die Figuren weiter abgekapselt, eingelullt in eine Welt für sich. Die erste Seite, ein Dialog von später, ermöglicht ein sofortiges Eintauchen in Goreliks Welt. Als Zitatmarkierer hat man hier Geburtstag und Weihnachten zusammen, und am Ende ein buntes Buch. Fast auf jeder Seite befinden sich schöne, nachdenkliche und zutreffende Zeilen, die jede Zitatsammlung bereichern.

"Meistens war diese Wut nach innen gerichtet, Sanela hasste sich selbst. Auch für alles, was andere taten. Das wird mit der Zeit vergehen. Gefühle lassen sich umkehren. Man kann zum Beispiel auch andere hassen für alles, was man selbst tut."

Das Ende wird vorweg genommen, scheint selbst den Protagonisten von Beginn an klar zu sein. Nils Liebe und Sanela's Reise nach Zagreb gibt dem Leser dank des Roadmovieelements den letzten Hinweis. Spoiler: Zitat Wikipedia.de: "In Roadmovies ist das Ziel meist die idealisierte Projektion eines vom Protagonisten erschaffenen Konstruktes, das per definitionem unerreichbar bleibt. Oft enden die Filme daher mit dem Tod der Hauptfiguren."
Null bis Unendlich ist keine Liebesgeschichte und doch steht die Liebe zwischen Sanela und Nils Liebe im Mittelpunkt. Oder eher Nils' Liebe zu Sanela. Die Beziehung der Beiden zueinander ist jedoch alles andere als klassich liebevoll. Selbst das verlieben scheint ohne Schmetterlinge oder grösseren Emotionen vonstatten zu gehen. Man tauscht Briefchen in der Klasse. Man schweigt sich, in gemeinsamen Einverständnis des nicht reden müssens, an. Ein, zweimal wird ein lächeln ausgetauscht. Wer grosse kitschige Liebe und Drama sucht ist hier falsch. Hier haben Schmerz und Einsamkeit die Vorherrschaft. Mit voranschreiten von Sanelas Krankheit fragt sich der Leser gemeinsam mit Nils Liebe warum das Paar als solches überhaupt noch existiert. Sanela's grausam ehrliche Antwort auf diese Frage lässt den Leser zum ersten Mal erkennen, dass Sanela zu Liebe fähig ist. Ein schmerzhaftes Miteinanderleben zweier Unsympathen und eines Kindes. Warum sich so ein Buch antun? Trotz aller boshaft wirken Sanela und Nils erfrischend echt, sind ehrlich. Antihelden sind faszinierend, und so abstoßend und unverständlich der Leser Goreliks Protagonisten finden wird, kann er doch nicht seine Neugier gegenüber dieser Andersartigkeit verleugnen.

"Er verschwieg das Offensichtliche. Das Leben mit Sanela basierte auf dem unausgesprochenen Gesetz, dass Sanela sagte, was sie wollte. Und darauf, dass alles, was sie wollte, umgehend geschah."