Rezension

Unerwartetes Ende

Stiller - Max Frisch

Stiller
von Max Frisch

Bewertet mit 3.5 Sternen

Der Grundinhalt ist sehr schnell erzählt: Mr. White, seines Zeichens amerikanischer Staatsbürger, wird auf der Durchreise durch die Schweiz angehalten, in eine Rangelei mit den Beamten verstrickt und... findet sich prompt im Untersuchungsgefängnis wieder. Die Anklage? Er wäre ein vor sechs Jahren verschwundener Schweizer Bürger namens Anatol Stiller, verheiratet mit der wunderschönen Julika Stiller-Tschudy, ihres Zeichens Balleteuse.

Einige wichtige Punkte: Ich fand es sehr skurril, das Buch hatte etwas Kafkaeskes an sich - man stelle sich vor, die ganze Welt behauptet, man wäre Person X und es gibt nichts, was man sagen oder tun kann, um das Gegenteil zu beweisen. Gar nichts. Egal was man sagt, es wird gegen einen verwendet und man wird immer wieder gefragt, wieso man es sich eigentlich so schwer macht. Und natürlich wird jede Weigerung, zu "gestehen", sehr persönlich genommen.

Ich gestehe, Max Frisch spielte mit meinen Erwartungen - bis ca. 200 Seiten vor dem Ende des Buches war ich von meiner Interpretation (die ich aus Spoilergründen hier nicht verraten will) mehr als fest überzeugt und als das Buch dann völlig anders aufgelöst wurde (im Nachhinein betrachtet logisch - aber ich wollte gewisse Hinweise einfach nicht wahrnehmen, scheint es mir), habe ich es erst mal zur Seite gelegt und mich gefragt: Ja und jetzt?
Die nächsten zweihundert Seiten haben mich überrascht. Das Buch wurde nicht weniger kafkaesk, es wurde nur allmählich sehr traurig. Und das nicht auf eine kitschig aufgesetzte Art und Weise - ich bemerkte die Traurigkeit erst, als ich mit dem Buch durch war und sich dieses Gefühl meiner bemächtigte, ohne dass ich es sinnvoll erklären könnte. Der Nachgeschmack bleibt.
Und das Buch behandelt einige Themen, über die jeder Mensch nachdenken sollte. Kann man einen geliebten Menschen nach seinem Willen formen? Was ist Identität? Was Erinnerungen?