Rezension

Verstrahlt fantastische Geschichte!

Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie - Katherine Dunn

Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie
von Katherine Dunn

Bewertet mit 5 Sternen

Die Lektüre dreht sich ausschließlich um die Zirkusfamilie Binewski. Der lateinische Ursprung des Wortes “Zirkus”, heißt so viel wie “Kreis”, genau das ist die Macht des Buches. Die Gedanken drehen sich und man kommt auf keinen wirklichen Nenner, da man die Themengebiete des Buches, moralisch wie ethisch, nicht wirklich fassen kann.

Olympia “Oly” Binewski, ein Albino-Zwerg mit Buckel, erzählt in dem Buch die Geschichte ihrer weltfremden Familie. Olys Erzählung beginnt mit der Kontaktaufnahme der Eltern und der widernatürlichen Entstehung von Olys Geschwistern. Die Mutter, Lilian “Crystal Lil”, wird vom Vater Aloysius “Al” mit Drogen, Medikamenten und sogar Radium versorgt, um so Zirkusattraktionen zu erschaffen. Da wären etwa Arturo “Arty”, der Fischjunge, Electra “Elly” und Iphigenia “Iphy”, die siamesischen Zwillinge, sowie das jüngste Familienmitglied Fortunato “Chick”. Im Großen und Ganzen erfährt man wie die Familie den Zirkusalltag übersteht. Allerdings wird die Darlegung des Zirkusfamilienlebens, von Oly aus der Zukunft geschildert. Die geht nämlich auf die vierzig zu und arbeitet in einer Radioanstalt. Arty liest ununterbrochen, wird dadurch sehr schlau und eloquent. Er mausert sich im laufe der Geschichte als zunehmend machiavellistisch und tyrannisiert geschickt seine Familie. Auch die anderen Charaktere (es tauchen ständig neue auf) werden in ihrer Gedanken- und Gefühlswelt beleuchtet, was dem Buch eine gewisse Authentizität verleiht.

Die Schreibweise eines Buches hat für mich einen höheren Stellenwert als die Geschichte selbst, darum hatte ich ganz großen Spaß beim lesen, da die Autorin wunderbar die Sätze metaphorisch verpackt und Simile an genau der richtigen Stelle setzt. Dadurch gewinnt die Narration an Plastizität und man hat ein genaues Bild des Geschehens und der Örtlichkeit vor Augen. Wahrscheinlich musste ich deshalb auch häufig an bestimmte Filme denken. Überhaupt ist die Fantasie von Katherine Dunn grenzenlos, verquer und oft schockierend und pervers, aber dennoch faszinierend. Mit jedem Kapitel wird man vor den Kopf gestoßen, da immer etwas neues und unvorhergesehenes passiert. Die Kapitelüberschriften und die Namen der Protagonisten sind genauso mystisch, oft bizarr und findig gewählt, wie die Geschichte selbst. Auf jeder Seite passiert so viel, dass man pausieren muss um über das eben gelesene nachzudenken. Oft wird es Zeit für eine Denkpause, wenn Arty eine kluge Phrase von sich gibt und eloquent, philosophische Überlegungen über das Leben, die Welt und das Verhalten von Menschen (gerade gegenüber körperlich eingeschränkten) anstellt.  Eine gewisse Portion Humor schwingt von Anfang an mit und dennoch ist das Buch teilweise verstörend. Andererseits fragt man sich auch, warum man an manchen Stellen indigniert ist.

Schon das pittoresk gestaltete Buch (die ZERO Werbeagentur erstellt eigentlich alle Umschläge mit viel Liebe), ein mit schwarz sich windenden Linien verzierter Umschlag, auf dem nach genauerem hinsehen das Schema eines Totenkopfes zu erkennen ist, lässt eine morbide und verschroben kuriose Geschichte erahnen. Der Titel ist auf einen Magentafarbenen Kreis gedruckt, was möglicherweise die radioaktive Komponente der Aufmachung ist.

Der Roman ist zweifellos lesenswert. Es gibt nur ein Faktum der mich störte und dieser ist subjektiv. Die Geschichte gibt einen von vorn bis hinten das Gefühl, sie könnte wirklich passiert sein oder noch passieren, da die Autorin alle Sachverhalte stimmig in Szene setzt und durchaus überzeugend auftritt. Doch eine Person entspringt eher einem Fantasyroman, was dem realen und vorstellbarem Charakter der Narration einen Dämpfer versetzt. Dennoch kann man sich mit diesem Protagonisten arrangieren und fragt sich zudem, weshalb die Autorin einen offensichtlich der stimmigen Handlung brechenden Charakter wählt.

Ein musikalisches Synonym zu finden, welches dem verwirrenden Roman gerecht wird, ist gar nicht so leicht. Vielleicht “Sick” von Chelsea Wolfe, oder doch lieber “Rubbles” von Moddi, oder “Undying Need To Scream” von Dillon, oder “The Intruder” von Greg Haines, oder “Center Of The Sun” von Eprom, oder ...