Rezension

Vom Niedergang einer Familie

Der dunkle Fluss - Chigozie Obioma

Der dunkle Fluss
von Chigozie Obioma

Bewertet mit 5 Sternen

Benjamin ist der zweitjüngste von fünf Brüdern; das jüngste Kind der Familie Agwu aus Nigeria ist ein Mädchen. (Das zum Thema: vertraue niemals einem Klappentext, den du nicht selbst geschrieben hast.)

Mit zwanzig Jahren Abstand zum damaligen Geschehen erzählt Benjamin von einer Verkettung dramatischer Ereignisse, die seine Familie zu einer Zeit zerstörten, als er selbst 9 Jahre alt war. Der äußere Anlass des Niedergangs war die Versetzung des Vaters in eine entfernte Großstadt. Die Mutter betreibt bis zum späten Abend einen Verkaufsstand auf dem Markt und hat sich bisher darauf verlassen können, dass ihr Ältester seine jüngeren Brüder beaufsichtigt und versorgt. Vor einem Hintergrund drohender Gefahren (im Fluss treiben Leichen und die Kinder sollen das Haus möglichst nicht verlassen) gerät u. a. durch die Abwesenheit des Vaters die Ordnung der Familie aus dem Gleichgewicht. Allein durch die Anwesenheit des Vaters war zuvor immer dafür gesorgt, dass alle Kinder ihre Pflichten erfüllten. Der 15-jährige Ikema verändert sich – für die jüngeren Kinder – in erschreckender Weise und treibt sich mit dem nächstältesten Bruder am Fluss herum, ohne dass die Mutter davon erfährt. Angesichts dieser Schlamperei und bitter enttäuscht von seinen beiden Ältesten, verprügelt der Vater seine Söhne. Er hatte sich für alle seine Kinder eine qualifizierte Ausbildung erhofft – und nun spielen sie, sie wären Fischer! Die folgenden äußerst grausamen Geschehnisse lassen sich auf das Zusammenwirken der zeitweiligen Vaterlosigkeit (symbolisch für eine ganze Gesellschaft), einer zerstörten Familienstruktur, Gewalt und Aberglauben zurückführen.

Der Icherzähler Benjamin Agwu ragt aus der Reihe seiner Geschwister durch seinen starken Bezug zu Tieren heraus. Seine Sprache ist deshalb ungewöhnlich bildreich, wenn er wie in einer Fabel Persönlichkeiten oder Ereignisse symbolisch Tieren zuordnet (die Hoffnung als Kaulquappe, sein Bruder Obembe als Spürhund). Allein wegen der Sprache lohnt es sich, Chigozie Obioma zu lesen.

Auf den ersten Blick legt Chigozie Obioma hier eine Geschichte aus dem Blickwinkel eines kleinen Jungen vor. Wer das Buch auf sich wirken lässt, findet aus dieser kindlichen Perspektive aber auch eindringlich die für Afrikas ungelöste Probleme ursächlichen Strukturen erklärt: der Zerfall der Familie (dramatisch verstärkt durch den AIDS-Tod einer ganzen Generation), Aberglaube und Gewalt. Verständnis für Strukturen, die Ausländer beim Blick auf Afrika häufig befremden, kann besonders die Figur des Vaters bewirken, dessen Motive ich aus seiner Sicht sehr plausibel finde. Chigozie Obioma zeigt die Verhältnisse schonungslos wie sie sind. Sie zur Kenntnis nehmen, ohne sie zu bewerten, ist ein erster Schritt zur sachlichen Auseinandersetzung mit dem modernen Afrika.