Rezension

What shall we do with a drunken sailor? - Ein spannender Roman

Wir Ertrunkenen - Carsten Jensen

Wir Ertrunkenen
von Carsten Jensen

Bewertet mit 4 Sternen

Es schien so unendlich groß, das Meer. Es konnte dich überallhin führen, und doch legte es dich in Eisen.

1848, Dänemark: Seit vielen Generationen herrscht in Marstal, einer kleinen Hafenstadt auf der dänischen Insel Ærø , die Tradition, dass die Söhne und Väter sowohl Heim als auch die Familie zurücklassen, um zur See zu fahren. Mal ist es ein Krieg, der die Männer aufs Meer treibt, mal die Abenteuerlust, die so manches Seemannsherz ruft - aber meistens bestimmt die Alternativlosigkeit über das Leben der dort Ansässigen. Nur wenige kehren nach Hause zurück.

Er beobachtete die Schiffe, die auf dem Weg nach Hamburg waren oder von dort kamen. Seine Augen folgten ihnen, so lange er sie erkennen konnte, sein Herz noch länger.

Mit 'Wir Ertrunkenen' gelang dem Autor Jensen der Inbegriff eines Schmökerromans, der 100 Jahre der dänischen Seefahrt umfasst und viel von Seemannsgarn, Einsamkeit, Krieg, Hoffnung, Betrug und Stolz erzählt. Angesichts der gewählten Zeitspanne (1848 – 1945) verfolgt der Leser viele Schicksale, ohne dass das Erzählte in Unübersichtlichkeit gerät. Der rote Faden konzentriert sich – trotz allerlei Nebenhandlung - auf vier Personen, die alle eine Gemeinsamkeit haben: die Vaterlosigkeit.

Die Übergänge zu den einzelnen Geschichten der Generationen gehen hierbei nahtlos über, was nicht zuletzt am unbekannten Erzähler, der Wir-Form, liegt. Dies erzeugt gleichermaßen eine greifbare Nähe als auch eine gewisse Distanz zum Geschehenen. Den Leser nimmt diese ungewöhnliche Erzählperspektive gedanklich sogleich mit auf das raue Meer, lässt ihn teilhaben, wenn Väter, Söhne, Brüder und Freunde um das Überleben kämpfen, exotische Länder bereisen, die brutale Hierarchie an Bord kennenlernen und dem Kriegsgräuel ausgesetzt sind, während die Mütter, Ehefrauen und Schwestern mit Ungewissheit auf die Heimkehr warten.

An Spannung und Geschichten mangelt es dem Roman keinesfalls. Zu den klassischen Abenteuerromanen hebt er sich in einem Punkt ab, da er die Perspektive ebenfalls auf die (meistens weiblich) Zurückgebliebenen, die warten, bangen und zunehmend das Meer verfluchen, richtet und ihnen somit eine Stimme verleiht.

Warum verliebte sich eine Frau in einen Seemann? Weil ein Seemann verloren war, gebunden an etwas Fernes, auch für ihn selbst Unerreichbares, eigentlich Unbegreifliches? Weil er hinausfuhr? Weil er wieder nach Hause kam? In Marstal beantwortete sich die Frage von selbst. Es gab kaum andere, in die man sich verlieben konnte. Für die einfachen Leute stellte sich die Frage nicht, ob ein Sohn zur See gehen sollte oder nicht. Er gehörte vom ersten Tag an dem Meer. Es stellte sich lediglich die Frage nach dem Namen des Schiffs, auf dem er zum ersten Mal anmusterte. Das war die Wahl, die es gab.

Der Schreibstil ist einfach und klar, aber auch sehr bildreich gehalten. So scheut sich der Autor bspw. nicht, entsetzliche Bilder des Krieges heraufzubeschwören, ohne jedoch emotional zu werden - das überlässt er dem Leser. Das Geschriebene erscheint mit fast allen Sinnen greifbar und steuert damit oftmals rasch auf eine Pointe zu.

Nur die Taubheit, die sich längst als Folge des anhaltenden Kanonendonners eingestellt hatte, verhinderte, dass wir das Schreien der Verwundeten hörten. […] Wir Lebenden verschworen uns gegen die bereits vom Tod Gezeichneten.

Inhaltlich greift der Roman manchmal vorweg, was aber dermaßen vage geschieht, sodass nicht viel verraten wird. Der Wortschatz orientiert sich souverän am Maritimen. Ein großer Pluspunkt ist - meiner Meinung nach -, dass weder die Seefahrt noch das harte Leben auf dem Festland romantisiert dargestellt werden. Als Leser musste ich oftmals schlucken. Hier und da stechen einzelne Sätze heraus, die – inmitten der schlichten Sprache – sehr gelungen sind und mich begeistern konnten, wie beispielsweise:

Wir wollten überleben und sahen eine Welt, die sich am Ende eines schwarzen Tunnels aus Eisen befand. Wir hatten die begrenzte Sicht des Kanonenrohrs.

Die bereits angesprochene und sehr interessante Wir-Perspektive verblasst manchmal leider etwas. Ab und an rutscht sie leider doch in die auktoriale Erzählweise. Hier hätte ich mir mehr Konsequent gewünscht. Im Mittelteil begegnet dem Leser (überraschenderweise) über ein paar Kapitel hinweg eine Ich-Perspektive, die aber ihren Sinn hat, ebenfalls Wiederholungen. Letztere dürften vielleicht nicht jedem gefallen, auch wenn sie - aus meiner Sicht - ihre Berechtigung haben.

An einer Stelle war es für meinen Geschmack ein wenig zu viel des Guten, was die Zufälle anbelangt; ebenfalls sollte man mit kleinen Längen rechnen und unverblümter Gewalt (mir wurde an einer Stelle wahrhaftig übel) rechnen.

Wer etwas Geistvolles sucht, sollte bestenfalls zu einem anderen Buch greifen. Derjenige jedoch, der sich auf eine unterhaltsam erzählte, 100 Jahre umfassende Geschichte, die nicht nur das menschliche Drama, sondern auch die Entwicklung der Seefahrt thematisiert und zwischen dem gut gesponnenen Seemannsgarn viel Historisches versteckt, einlassen möchte, ist mit diesem Roman gewiss gut bedient. Trotz der genannten Schwächen las ich den Roman gerne.

Er wollte nicht unser Geld haben, sondern unser Kompass sein. Er wollte den Kurs abstecken - nicht nur für die Reederei, sondern für die ganze Stadt.