Rezension

Wir werden älter, aber in den letzten Lebensjahren auch gebrechlicher

Das Buch über das Älterwerden -

Das Buch über das Älterwerden
von Lucy Pollock

Bewertet mit 5 Sternen

Beinahe jeder hat es schon miterlebt: eine ältere Person stürzt, wird im Krankenhaus behandelt und danach scheint es mit ihm/ihr körperlich und geistig nur bergab zu gehen. Eine jüngere Person würde nach einer Sturzverletzung eine Weile eine Schiene o. ä. tragen und danach wieder ihr "altes Selbst" sein. Ein älteres Unfallopfer jedoch kann laut Pollock völlig aus der Bahn geworfen werden und im schlimmsten Fall danach nicht mehr ohne Hilfe leben. Die rein rechnerisch steigende Lebenserwartung erkaufen wir uns leider mit zunehmender Gebrechlichkeit in unseren letzten Lebensjahren, so die Autorin.

Lucy Pollock arbeitet als Geriaterin interdisziplinär mit verschiedenen Experten zusammen. Sie lässt sich nach häuslichen Unfällen von Senioren genau beschreiben, wie sie sich vor ihrem Unfall gefühlt haben. Häufig kann sie so aufspüren, dass ihre Patienten weder über ihre Hausschuhe noch über den Teppich gestolpert sind, sondern die noch wenig erforschte „Multimedikation“ indirekt Auslöser ihres Sturzes war. Als Lehrkraft vermittelt Pollock ihren Studenten anschaulich, wie Patienten zunächst ein Medikament gegen eine Krankheit verordnet bekommen, unter Nebenwirkungen leiden, weitere Präparate einnehmen sollen und schließlich Wechselwirkungen die erhoffte Wirkung des ursprünglichen Medikaments zunichtemachen. Ein ähnlich komplizierter Problemcluster tritt auf, wenn Medikamente unerwünschten Einfluss auf Depressionen oder Demenz zeigen, wie man sich leicht ausmalen kann. Pollocks Tätigkeit besteht zu einem beachtlichen Teil aus Gesprächen über die Medikamentenliste. Ihr Ziel ist es, Patienten, Angehörige und Pflegepersonal einzubeziehen und Präparate abzusetzen, die in mittleren Jahren wichtig und wirksam sind, von einem bestimmten Alter an jedoch zu wenig bewirken, um Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Welche Missverständnisse in diesen Gesprächen entstehen können, hat mich verblüfft, viele davon habe ich bei Angehörigen ähnlich erlebt. Alle im Buch angesprochenen Themen gipfeln in der Einsicht: „Wir reden nicht genug darüber, alt zu sein“.

Lucy Pollock scheint die Geriatrie als Fach buchstäblich auf den Leib geschneidert zu sein, das demonstriert jede ihrer zahlreichen Anekdoten aus der Praxis. Ihre Stärke sind, neben einer bewundernswert positiven Einstellung, die Fähigkeit zur Selbstkritik und ihr Talent, im Gespräch so wertschätzend wie direkt zum Kern des Problems zu gelangen.