Rezension

Zwei Brüder - und die Suche nach Versöhnung

Der Empfänger - Ulla Lenze

Der Empfänger
von Ulla Lenze

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als Josef Klein 1949 aus amerikanischer Haft nach Deutschland abgeschoben wird, besitzt er nur was er auf dem Körper trägt und hat keine Papiere. In Neuss kann er bei seinem Bruder und dessen Familie unterschlüpfen. Carl Klein dringt darauf, dass Josef sich beim Einwohnermeldeamt registriert; denn Lebensmittel werden im besetzten Deutschland noch mit Lebensmittelmarken zugeteilt. „Joe“ Klein kann nicht übersehen, dass seine Gastgeber hauptsächlich von dem leben, was sie im Garten anbauen und Edith auffallend dünn ist. Ohne Papiere, ohne Arbeit und in den geliehenen Kleidungsstücken seines Bruders wirkt Josef im wahrsten Sinn wie eine „displaced person“. Unterschwellig scheinen die Brüder sich gegenseitig vorzuwerfen, dass der jeweils Andere es während des Krieges leichter hatte und sich mit Kritik besser zurückhalten sollte. Dass Beharren, jeder hätte auf der Seite der Guten gestanden, scheint der falsche Weg zu sein. Auch Edith, die als Emissärin zu vermitteln versucht, hat gegen den tiefsitzenden Groll keine Chance.

Eine Rahmenhandlung deutet an, dass Josef in den 50ern nicht mehr in Deutschland lebt. In Rückblenden entfaltet Ulla Lenze auf zwei Zeitebenen die Geschichte der Brüder Klein, die vor 25 Jahren gemeinsam in die USA auswandern wollten. Ein Unfall beendet Carls Traum von der neuen Welt, bewahrt ihn jedoch in Deutschland auch vor dem Kriegsdienst. Josef schafft es allein auf dem Zwischendeck nach New York; er  findet mit dem irischstämmigen Arthur einen Arbeitgeber und Mentor. In Arthurs Druckerei wurden Kunden  bisher ohne Ansehen ihrer politischen Position beliefert, das ändert sich jedoch, als der Kriegseintritt der USA unmittelbar bevorsteht. Als Amateurfunker hat Josef Lauren kennengelernt, die unbedingt aus der Provinz nach New York will, um zu studieren. Im Kontakt mit Lauren wird deutlich, dass Joe selbst in der deutschen Community noch längst nicht alle Codes der Neuen Welt lesen gelernt hat. Als ein lukrativer Auftrag für einen erfahrenen Funker winkt, fällt Josef eine verhängnisvolle Entscheidung.

„Der Empfänger“ wirkt zunächst wie ein Konflikt zweier Brüder, die im Zweiten Weltkrieg auf gegnerischen Seiten standen und ihre Entfremdung nur schwer überwinden können. Josef kann Carl einfach nicht gestehen, warum er in den USA zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde – und Carl kann seinem Bruder deshalb nicht trauen.

Anfangs schien mir der Plot mit seinen Schauplätzen in mehreren Ländern und mit mehreren Zeitebenen zu verschachtelt. Erst Josefs (verfahrene) Geschichte mit allen Details rechtfertigte schließlich diese Struktur. Stilistisch hat mich der Roman von Beginn an gepackt, der sich an die Biografie von Lenzes Großonkel anlehnt. Der Roman-Josef wirkt auf mich in aller Zerrissenheit höchst glaubwürdig, auch die Innensicht anderer Figuren vermittelt mir, was diese Personen ausmacht. Und schließlich kann Ulla Lenze - häufig in Nebensätzen - ganze atmosphärische Geschichten erzählen – aus Nachkriegsdeutschland, aus Costa Rica und aus einem oberen Stockwerk in Black Harlem, an dem die Bahn vorbeidröhnt.