Buch

Roter Eukalyptus - Susanne Wahl

Roter Eukalyptus

von Susanne Wahl

Heute war der Tag, an dem die Großmutter mit ihr zu den heiligen Steinen gehen würde. Kartanya hatte vor lauter Aufregung nicht schlafen können. Eng an ihren Dingo gekuschelt hatte sie auf das leise Schnarchen der alten Frau neben ihr unter dem Windschirm gehorcht und auf das gelegentliche Grunzen der älteren Männer auf der anderen Seite des Feuers. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wie es sein würde: Würden Geisterstimmen zu ihr sprechen? Oder würde sie Traumbilder sehen? Großmutter hatte nur gesagt, dass sie dort erfahren würde, welches Schicksal die Ahnengeister für sie ausersehen hatten.Großmutter war keine gesprächige Frau. Die letzten Wochen, in denen sie mit ihr auf dem Traumpfad der Heilerinnen ihrer Kararu-Moiety gewandert war, waren sie meist schweigend hintereinander hergegangen. Nur wenn die alte Frau ihr einen der speziellen Orte zeigte, an denen Heilpflanzen zu finden waren, brach sie ihr Schweigen.Kartanya wusste, ohne dass die Alte es ausgesprochen hatte, dass sie unzufrieden war, sehr unzufrieden. Es hatte etwas damit zu tun, dass ihr Vater die Mutter immer öfter den Schafhirten in der Umgebung anbot, um sich das Jagen zu sparen. Die weißen Männer gaben ihm dafür, dass sie den Körper der Mutter gebrauchen durften, totgeborene Lämmer. Oder das brennende Wasser, das ihren Vater in ein hilfloses Kleinkind verwandelte, das nicht einmal alleine urinieren konnte. Dabei bot ihr Pangkarra, das angestammte Revier der Sippe hier an den Ufern des großen Flusses, ausreichend Nahrung für die Familie. Niemand von ihnen musste Hunger leiden, selbst wenn Vater und Onkel ohne Jagdbeute oder nur mit einer Eidechse ins Lager kamen. Die Frauen hatten dann immer schon die Kochgruben voller Yamsknollen und anderer Pflanzenteile vorbereitet, und an den meisten Tagen erbeuteten Kartanya und die anderen Kinder zumindest ein paar Vögel.Als sie vor ein paar Tagen von ihrem Traumpfad-Trail zurückgekehrt waren, war das Lager bis auf zwei alte Männer leer und verlassen gewesen. Die beiden hatten sich halb verhungert auf die unterwegs von den Frauen gesammelten Maden und Früchte gestürzt. Erst nachdem ihre Mägen gefüllt waren, berichteten sie ihnen, was sich im Lager abgespielt hatte.Eine Familie aus dem Süden hatte darum gebeten, nur eine einzige Nacht im Schutz ihres Lagerfeuers übernachten zu dürfen. Sie waren auf der Flucht vor dem Dämon Nokunna, der bereits einige von ihnen getötet hatte, und sie hofften, bei Verwandten im Norden vor ihm in Sicherheit zu sein. Man hatte ihnen Unterkunft gewährt, und am nächsten Morgen waren sie wie versprochen weitergezogen. Aber der Nokunna musste ihre Spur aufgenommen haben und hatte sich andere Opfer gesucht: Kartanyas Familie.Zuerst erkrankten die Kinder. Sie klagten morgens über bohrende Schmerzen im Kopf, bald danach fühlte ihre Haut sich glühend heiß an und in der darauffolgenden Nacht starben sie.Auch die Erwachsenen konnten dem Dämon nur wenige Tage länger standhalten. Einer nach dem anderen war ihm erlegen. Aus Angst, die Toten zu berühren, verzichteten sie sogar auf die Totenzeremonien und übergaben die Gestorbenen einfach dem Fluss. Sie hofften, den tödlichen Geist so von den noch Lebenden abzulenken. Vergebens.Starr vor Entsetzen lauschte Kartanya dem Bericht der Männer. Ihr Verstand schien sich zu weigern, das Gehörte zu begreifen. Das Blätterpaket mit den bunten Vogelfedern, die sie unterwegs für ihre kleine Schwester gesammelt hatte, glitt ihr aus den plötzlich schlaffen Händen. Warooyoo liebte es, sich zu schmücken, und Kartanya hatte sich schon auf das Strahlen in ihrem Gesicht gefreut, wenn sie ihr Geschenk auspacken würde. Stumme Tränen flossen ihr über die Wangen, als ihr bewusst wurde, dass sie auch ihre Mutter erst im Geisterreich wiedersehen würde.Ihre Mutter mit dem fröhlichen Lachen und den geschickten Händen, die jeden Dorn fanden und aus der Haut ziehen konnten. Kartanya presste die Lippen zusammen, um die Schreie, die in ihrer Kehle aufstiegen, zurückzuhalten. Sie schloss die Augen, als könne sie so die Realität und die Worte der Alten für einen Moment aussperren. Dann fiel ihr Name und riss sie aus ihrer stillen Trauer.»Jetzt, wo ihr wieder da seid, können wir Kartanya zu den Weißen schicken«, schlug der Großonkel ihres Vaters vor. »Sie ist alt genug, und die weißen Männer werden sicher auch mit ihr zufrieden sein.«»Das kommt überhaupt nicht infrage«, wehrte die Großmutter entschieden ab. »Kartanya haben die Geister ein anderes Schicksal bestimmt. Sie wird nicht zu den Weißen gehen. Noch nicht.«»Woher willst du das wissen?« Der weißhaarige Onkel mit den milchigen Augen legte den Kopf schief, als versuche er, durch den Schleier zu schielen, der seine Augäpfel überzog. »Haben die Geister zu dir gesprochen?«»Ja, das haben sie.«Verächtlich drehte sie ihnen den Rücken, eine unverzeihliche Geste der Missachtung gegenüber den ehrwürdigen Männern. Kartanya hielt den Atem an aus Furcht, der kräftigere der beiden würde die Großmutter gleich mit dem Wurfholz auf den Kopf schlagen. Aber nichts war geschehen.Die folgenden Tage waren nicht einfach für sie gewesen. Großmutter hatte ihr die Versorgung der beiden Großonkel überlassen und aus Ärger darüber, dass Kartanya nicht zu den Weißen ging, kniffen oder schlugen die Männer sie bei jeder Gelegenheit. Sie wollten Fleisch, nicht die Wurzeln und Knollen, die Kartanya mit ihrem Katta mühselig aus dem steinharten Boden grub und in ihrem Yammaru aus geflochtenem Gras ins Lager schleppte. Dabei tat Kartanya ihr Bestes: Nicht eine der fetten Maden und Honigameisen behielt sie für sich. Aber alleine für das tägliche Essen von vier Menschen zuständig zu sein, war harte Arbeit. Warum half die Großmutter ihr nicht? Die verschwand im Morgengrauen und kehrte oft genug erst bei Anbruch der Nacht zurück. Achtlos aß sie dann, was Kartanya vor den gierigen Alten hatte verbergen können, aber sie wirkte dabei so geistesabwesend, dass Kartanya nicht wagte, sie anzusprechen.Gestern allerdings war sie zum ersten Mal wieder so gewesen, wie Kartanya sie von früher kannte. Ihre hellen Augen unter den runzligen Lidern hatten wach und liebevoll auf ihrer Enkelin geruht. »Es ist so weit«, hatte sie fast erleichtert verkündet. »Morgen nehme ich dich mit zu den heiligen Steinen der Frauen.«

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
464 Seiten
ISBN:
9783641037567
Erschienen:
November 2009
Verlag:
Heyne Verlag
9
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4.5 (1 Bewertung)

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