Rezension

Atmosphärisch dicht und empathisch

Der Friedhofswärter -

Der Friedhofswärter
von Ron Rash

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – In seiner Heimat USA ist der bereits vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ron Rash (70) durch seine seit 25 Jahren veröffentlichten Romane und Erzählungen längst als erfolgreicher Autor bekannt. Zweimal war er schon Finalist für den höchst angesehenen PEN/Faulkner Award, zu dessen Preisträgern weltbekannte Autoren wie T. C. Boyle, Philip Roth, Richard Ford und John Updike gehören. Doch im deutschsprachigen Raum kennt man ihn noch nicht. Dies wird sich dank seines neuen Romans „Der Friedhofswärter“ jetzt hoffentlich ändern, der in deutscher Übersetzung im Mai beim Verlag ars videndi erschien. Darin geht es um wahre und falsch verstandene Liebe, um Verrat, um Angst vor Gesichtsverlust und um Machtmissbrauch in dichter Kleinstadt-Atmosphäre.

Daniel und Cora Hampton sind zu Beginn der 1950er Jahre als Eigentümer des örtlichen Sägewerks und Ladengeschäfts die wichtigsten Arbeitgeber in Blowing Rock, einem Provinznest in den Apalachen. Nach dem Weltkrieg haben sie vielen Männern Arbeit gegeben und ihnen mit Krediten ausgeholfen. Heute gehören sie zu den Honoratioren des Ortes. Viele Bewohner sind von ihnen finanziell oder moralisch abhängig.

Nach dem frühen Tod ihrer beiden Töchter wurde ihnen unerwartet doch noch Sohn Jacob geboren, auf den sich nun die Liebe der Eltern übermächtig konzentriert. Sie tun alles für ihn, sie planen sein Leben und hatten sogar schon eine Braut für ihn ausgesucht. Doch Jacob hatte andere Pläne: Er heiratete kürzlich die erst 16-jährige Naomi, ein Zimmermädchen aus einfachsten Verhältnissen, und ist mit ihr durchgebrannt, woraufhin die Eltern ihn enterbten. Ausgerechnet als Naomi ihr Kind erwartet, wird Jacob nun als Soldat in den Korea-Krieg einberufen und wenige Wochen später schwer verwundet. Ein entsprechendes Telegramm wird nicht an Naomi weitergeleitet, sondern an Jacobs Eltern. Die Mutter ersinnt gemeinsam mit ihrem Mann einen hinterhältigen Plan, um ihren „verlorenen“ Sohn wieder an sich binden zu können. Jacobs junger Freund Blackburn Gant, der seit der Kindheit durch eine Poliokrankheit entstellt ist, hat sich als Friedhofswärter an den Ortsrand zurückgezogen. Ihn hatte Jacob gebeten, für Naomi während der Schwangerschaft zu sorgen, während er selbst in Korea ist. Blackburn steht nun zwischen seinen Freunden und Jacobs Eltern, die den Unwissenden für ihren perfiden Plan unbemerkt missbrauchen.

Doch so perfekt der Plan der Hampton-Eltern auch ausgedacht sein mag: „So viele Lügen, so viele Stolpersteine, jederzeit droht ihr egozentrischer Plan aufzufliegen.“ Immer wieder entschuldigt Mutter Cora sich selbst und ihren Ehemann für ihrer beider selbstsüchtiges Handeln, das Jacobs frei gewähltes Leben mit Naomi zu zerstören droht: „Die Welt ist uns etwas schuldig.“ Doch dann kommt es, wie es kommen muss. „Die Wetterfahne [auf dem Kirchturm] drehte sich“, heißt es im Roman. Es geschieht etwas, was auch Cora Hampton nicht voraussehen konnte. „Jetzt hatte die Mauer Risse, durch die die Wahrheit hindurchsickern konnte.“

„Der Friedhofswärter“ ist trotz seiner Dramatik ein recht leiser, überaus gefühlvoller Roman, der dennoch nicht Gefahr läuft, ins Kitschige abzugleiten. Zwar baut sich die Spannung nur sehr langsam auf, doch die Lektüre wird nie langweilig. Wir lernen die einzelnen Charaktere ih ihrer jeweiligen Gefühls- und Gedankenwelt kennen. Der Autor urteilt nicht und unterteilt nicht in gute und schlechte Menschen. Jeder hat oder empfindet für sein individuelles Handeln gute Gründe. Die in ihrer Verzweiflung missverstandene Liebe der Eltern zu ihrem über alle Maßen geliebten Sohn wird ebenso verständlich und nachvollziehbar wie die wahre Liebe des jungen Paares zueinander. Doch der eigentliche Held dieser tragischen Geschichte ist der trotz seines Schicksals und erlittener Kränkungen gutherzige Blackburn Gant, den wir durch den Roman begleiten, in seiner unermesslichen Freundschaft zu Jacob.

Autor Ron Rash zeigt in seinen Protagonisten die unterschiedlichen Varianten von Liebe, die missbräuchlich in Verrat ausarten kann. Sein neues Buch ist zwar ein sprachlich leicht lesbarer, in seiner psychologischen Tiefe aber umso nachhaltigerer Roman, der zu weiterem Nachdenken anregt. Jetzt ist zu hoffen, dass „Der Friedhofswärter“ nicht das einzige Buch des amerikanischen Schriftstellers in deutscher Übersetzung bleibt.