Rezension

Appetit auf die Welt

So wenig Buchstaben und so viel Welt -

So wenig Buchstaben und so viel Welt
von Hugo Loetscher

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Globale Welterfahrung, sagt das Nachwort! Besser kann man das Buch nicht zusammenfassen!

Hugo Loetscher, (1929-2009), ein schweizer Journalist und Reiseschriftsteller, ist wahr und wahrhaftig herumgekommen! Wo war er nicht? In dem Sachbuch „So wenig Buchstaben und so viel Welt“ bringt er seine Erinnerungen und seine Erfahrungen, die allesamt früher veröffentlichte Reisereportagen gewesen sind, noch einmal an die Leserschaft. Einen Schwerpunkt seiner Reiseliteratur festzumachen ist gar nicht so einfach, Asien liegt ihm besonders und Südosteuropa und Südamerika.
Als studierter Doktor der Philosophie und der Literaturwissenschaft weiß er sich auszudrücken und erzählt er nicht nur von Land und Leuten, sondern auch von der Literatur des Landes, dessen Denkart und Eigenart. Viel auch über Architekur.
Viele seiner Beobachtungen sind zeitlos, manche freilich sind nicht mehr taufrisch. Aber da Hugo Loetscher die Politik der bereisten Länder generell ausspart, ist die verlorene Tagesaktualität bei der Lektüre eigentlich kein Problem, Loetscher zielt auf Tradition, Geschichte, allgemeine Betrachtungen über die Natur der Dinge, Geistesgeschichte, Architektur. Und er stellt sich Fragen.
Auszugsweise:
„Das ländliche Idyll ist eine Erfindung der Städter.“
„Als Bürger einer Stadt sind wir immer zugleich Provinzler eines Viertels“.
„ Was hat die portugiesische Welt (als Kolonialmacht) der Welt eingebracht?“
„Die brasilianische Traurigkeit ist eine dreifache. Die Traurigkeit der Portugiesen, die nicht hierhergekommen waren, um zu bleiben, die aber aus irgendwelchen Gründen blieben, voll Nostalgie für die alte Welt. Die Traurigkeit der Schwarzen, als Sklaven in einen fremde Kontinent verschleppt und die Traurigkeit der Indios, die im eigenen Kontinent zu Fremden wurden.“ Diese Zitate sollten als Kostprobe genügen. 

Besonders der Vergleich zwischen Indien und der Schweiz, der Heimat des Autors,  beeindruckt mich. Indien hat einen anderen Maßstab. In Indien, sagt Hugo Loetscher, sind selbt die Zwerge riesengroß.
Hugo Loetscher war natürlich auch in Kiew, freilich in der guten alten Zeit, in den 1990ern. Und auch die Schweiz, seine Heimat, kommt nicht zu kurz in seinen Reportagen. Dabei kommt mir ein Gedicht von Gottfried Benn in den Sinn: „Meinen Sie, Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt, … meinen Sie, aus Habana bräche ein ewiges Manna … Ach, vergeblich das Fahren!“ Ergo: Alles ist relativ!
Zu dieser, meiner, Aussage passen vortrefflich Loetschers Betrachtungen über nicht nur schweizer Nationalität: „Wir müssen uns hüten vor einer totalen Identifikation. Im schlimmsten Fall liefert sie die Rechtfertgung für Krieg, die totale Identifikation trägt Uniform.“

Die Reportagen sind weder chronologisch nach Reisejahr noch nach Geographie geordnet. Dass ich kein Ordnungsprinzip erkennen kann, ist mein einziger Wermutstropfen und gäbe einen Stern Abzug, wenn das Nachwort zur Person Loetscher nicht wäre, das ist so gut … und der erloschene Stern leuchtet wieder.

Fazit: Die klugen und anschaulichen Betrachtungen über Kunst, Kultur und Architektur aus verschiedenen Jahren zu verschiedenen Kontinenten und ganz vielen Städten, macht mächtig Lust auf Weltreise, weitet auf jeden Fall Sicht und Horizont - führt zu mehr Toleranz und Weltoffenheit! 

Kategorie: Reiseliteratur
Verlag: Diogenes, 2024

Kommentare

Emswashed kommentierte am 31. Juli 2024 um 21:19

Du meinst, was Julian Barnes für die Gesellschaft, ist Loetscher für die Länder? Schöne Rezi, macht Lust.