Rezension

Abgründe unter Therapeuten und Theologen

Bei aller Liebe -

Bei aller Liebe
von Jane Campbell

Bewertet mit 5 Sternen

Malcolm Miller, Fellow der Universität Oxford und Experte für das Alte Testament, musste in hohem Alter in eine betreute Wohnung ziehen.  In einem Alter, in dem kaum noch Weggefährten am Leben sind, fühlt sich „Mally“ verpflichtet, endlich einen Brief zu übergeben, den ihm seine Schwester Sophy vor 50 Jahren unmittelbar vor ihrem Tod anvertraute. Die darin geschilderten  Zweifel, ihr Ehemann könnte nicht der Vater ihrer Tochter Agnes sein, würden nicht nur Agnes Leben auf den Kopf stellen. Malcolm müsste seine willkürliche Entscheidung über Agnes Leben in Frage stellen, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern als einziges Kind bei Großeltern und Patenonkel aufwuchs, und  sich fragen, warum er nie den Schritt aus dem elterlichen Pfarrhaus ins Leben wagte.  In das überschaubare, fast provinzielle Biotop aus Therapeuten, Theologen und Malcolms Familie geben als Icherzähler abwechselnd Malcolm selbst Einblick, Agnes Stacey, ihr Hausarzt Charles und ihr Therapeut Joe Bradshow. 

Jane Campbell  entwickelt ein komplexes Netz  beruflicher und privater Verbindungen, bei dem man sich fragt, wie Agnes genaue Herkunft so lange unentdeckt bleiben konnte.  An die Abstammungsfrage docken weitere Themen an: das Aufwachsen während des Krieges,  Waisenkinder und erwartete Dankbarkeit gegenüber Mentoren/Förderern, die Universität als Fortsetzung der Kindheit, Grenzüberschreitungen durch Tratsch,  Malcolms Einsamkeit im Alter und diverse Aspekte von Trauer.

Obwohl Agnes  hier im Mittelpunkt komplexer Beziehungen steht, hat mich am stärksten Campbells Icherzähler Malcolm mit seiner Fürsorge für Agnes beeindruckt, wie kritisch auch immer man sie beurteilen wird. Als Psychoanalytikerin gibt Jane Campbell mit einem Augenzwinkern offenbar Einblick in Abgründe ihrer eigenen Profession.