Rezension

unterhaltsam

Das Wohlbefinden -

Das Wohlbefinden
von Ulla Lenze

Bewertet mit 4 Sternen

In diesem Roman lernen wir die Lungenheilstätte in Beelitz kennen. Zwischen 1898 und 1930 wurde das südlich von Berlin liegende Gelände als Arbeiter-Lungenheilstätte genutzt, diente während der Weltkriege als Lazarett und Sanatorium und nach 1945 als sowjetisch/russisches Militärhospital. Ab 2016 wurde dort ein sog. Creative Village mit Ateliers und Wohnungen errichtet.

Die im Roman erzählte Geschichte erstreckt sich in Anlehnung an die Historie der Heilstätten über 3 Zeitebenen. 1.) 1907/1908: Beelitz ist Arbeiter-Lungenheilstätte. Die beiden Protagonistinnen Anna Brenner und Johanna Schellmann treffen in der Heilstätte aufeinander. Anna, die Fabrikarbeiterin aus einfachen Verhältnissen, soll sich hier von ihrer Tuberkulose erholen. Johanna Schellmann, aus reichen Verhältnissen stammend, in Berlin lebende Gattin eines Arztes, besichtigt den Ort, um ein Buch darüber zu schreiben und interessiert sich zunehmend für Anna, die für ein Medium mit übersinnlichen Fähigkeiten gehalten wird.

2.) 1967: Johanna, mittlerweile alt, verwitwet und allein in Berlin Dahlem lebend, erinnert sich an ihre Zeit als Schriftstellerin und versucht mit einem neuen Roman an ihren Erfolgsroman aus der Heilstättenzeit 1907/1908 anzuknüpfen.

3.) 2020: Vanessa, eine Urenkelin Johannas, zieht es nach Beelitz ins Creative Village. Ihre Wohnung in Berlin Kreuzberg wurde ihr gekündigt. Sie erhofft sich eine neue und billigere Bleibe in Beelitz.

Den Hauptteil des Romans nimmt die Zeit um 1907/1908 ein, das Aufeinandertreffen von Anna und Johanna und den zu dieser Zeit angesagten Hype um Okkultismus und insbesondere um das Heraufbeschwören der Seelen von Verstorbenen. Der Leser erlebt Seancen mit, wird Zeuge von geisterhaften Erscheinungen, ausgelöst durch die Anwesenheit der überaus religiösen Anna.

Eine faszinierende, metaphysische Atmosphäre umgibt Anna, und dieser Aura erliegt auch Johanna. Hier wird eine gruselige, mystische Atmosphäre geschaffen, die mir gefallen hat, auch wenn die Glaubwürdigkeit Annas durchaus angezweifelt werden kann und auch wird, so vom Ehemann Johannas, als Mediziner ein Naturwissenschaftler ohne Hang zum Übersinnlichen.

Die drei Zeitebenen sind geschickt miteinander verknüpft. Es ist unterhaltsam und spannend zu lesen, wie es zu einem Unfall im Hause Schellmann in der Berliner Villa kommt, in der der Ehemann Johannas wissenschaftliche Forschungen zur Bekämpfung des Tuberkulosebazillos betreibt. Vage bleibt, was wirklich geschah. Aufschluss über die Wahrheit könnte ein Manuskript geben, das die Urenkelin Vanessa bei einer Besichtigung der ehemaligen Heilstätten 2020 zugespielt wird.

Sehr gelungen ist die Wiedergabe der Atmosphäre des Lebens in der Kaiserzeit, einerseits in der luxuriösen Villa Johannas mit Köchin, Kinderfrau etc. und andererseits die harten Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiterin Anna. Ebenso die 1967iger Jahre, Studentenaufstände in West Berlin, der Schahbesuch und schließlich die heutige Zeit, Berlin 2020, quirlig, trendig, Großstadtfeeling. Dagegen das ruhige, wohlsituierte, spiessig anmutende Ambiente in Beelitz. Alles so überaus gepflegt, ganz anders als das "dreckige" Berlin, so empfindet es Vanessa und kann sich dennoch nicht mit Beelitz anfreunden. All das konnte ich nachempfinden, was dem wunderbaren Schreibstil der Autorin zu verdanken ist.

Das durch Anna verkörperte Okkulte und Metaphysische, das über dem Hauptteil 1907/1908 schwebt und dessen Anziehungskraft auf Johanna hätte m. E. noch mehr ausgeleuchtet werden können. Genau wie die Brücke in die heutige Zeit besser und verständlicher hätte geschlagen werden können. Wenn eine solche Brückenschlagung überhaupt gewollt war. Insofern fehlt es dem Roman an Tiefe. Was soll hier vermittelt werden, was ist die Botschaft ? Der letzte Teil des Romans gibt Anlaß zu vielfältigen Spekulationen über das, was damals wirklich geschehen sein könnte, ähnlich wie ein Krimi, nur leider ohne Auflösung. Es liest sich gut, läßt den Leser m. E. dennoch ratlos zurück.

Warum sind Romane in und um Heilstätten im Jahr 2024 so en vogue ? Wird hiermit ein Bedürfnis nach Wohlbefinden, nach Heilung und Sinngebung bedient ? Unterhaltsam war "Das Wohlbefinden" von Ulla Lenze trotz aller offenen Frage jedenfall sehr ! Ich vergebe 4 Sterne und eine Leseempfehlung für alle Freunde von Heilstätten, Kurorten und Sanatorien.