Rezension

Eine Hommage an das Älter werden und das Alter

Ein Leben mehr - Jocelyne Saucier

Ein Leben mehr
von Jocelyne Saucier

Bewertet mit 5 Sternen

~~Klappentext
Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneige auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von zweiundachtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, kommen sich diese Menschen näher, und plötzlich ist alles wunderbar kompliziert.

Ted war ein gebrochener Mann, Charlie ein Naturbursche und Tom ein Draufgänger. Die Tage vergingen, und sie wurden gemeinsam alt. Sehr alt. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Keiner von ihnen wollte zurück in sein früheres Leben, sie wollten einfach morgens aufstehen, den neuen Tag begrüßen, der nur ihnen selbst gehörte, und sich von niemandem in irgendwas rein reden lassen.“ (Seite 40)

Ted, Charlie und Tom leben in den nordkanadischen Wäldern. Zusammen sind sie fast zweihundert Jahre alt. Sie sind der festen Überzeugung, dass sie noch viele Jahre vor sich haben. Doch eines Morgens ist Ted tot. Und ohne, dass es die beiden anderen ahnen ist mit seinem Tod auch die Einsiedelei vorbei. Denn ein paar Tage nach Teds (auch Ed oder Boychuck genannt) taucht eine Fotografin auf, um über die Großen Brände und Boychuck zu recherchieren, der als einer der wenigen diese Brände überlebt hat. Aber die Fotografin stößt nur auf Charlie und Tom. Von Charlie ist sofort fasziniert.

Ich war beeindruckt von dieser dicken, knotigen Hand mit den steifen Gelenken, die im Fell des Hundes so geschmeidig war, und noch mehr von Charlies Stimme, die, wenn sie dem Hund galt, leiser wurde, samtweich und zärtlich“ (Seite 18)

Doch damit nicht genug, stößt ein paar Tage später eine alte Dame zu den beiden Alten. Sie wird von Bruno, einem jungen Mann, der ab und an nach den Alten schaut und sie mit Lebensmittel versorgt, ins Lager gebracht. Marie-Desneige, so heißt die alte Dame ist zweiundachtzig Jahre alt und hat davon sechsundsechzig Jahre in einer Psychiatrie verbracht. Nun ist sie mehr oder weniger getürmt. Die Männer errichten ihr eine Hütte und fortan lebt Marie-Desneige bei Tom und Charlie. Die Fotografin schaut immer mal wieder vorbei und bleibt dann für einige Zeit dort. Doch das Leben der beiden Männer wird durch die Anwesenheit von Marie-Desneige durcheinander gebracht. Sie und Charlie nähern sich immer mehr an …

Ich liebe Geschichten, ich liebe es, wenn man mir ein Leben von Anfang an erzählt, mit allen Umwegen und Schicksalsschlägen, die dazu geführt haben, dass ein Mensch sechzig oder achtzig Jahre später vor mir steht, mit einem ganz bestimmten Blick, ganz bestimmten Händen und einer ganz bestimmten Art zu sagen, dass das Leben gut oder schlecht gewesen ist.“ (Seite 19/ 20)

Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, denn dieses Buch hat mich einfach umgehauen.

Ich liebe dieses Cover ♥ Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich nur, was für ein charismatischer Mann. Allein das war schon ein Argument, sich den Klappentext näher anzuschauen. Als ich dann angefangen habe dieses Buch zu lesen, bekam dieses Gesicht immer mehr einen Namen und am Ende des Buches habe ich nur gedacht … ja, das muss Charlie sein. Genau so und nicht anders stelle ich mir diesen Mann vor. Ein vom Leben gezeichneter Mann, der dennoch eine Wärme und Zärtlichkeit in sich hat, die man in seinem Gesicht ablesen kann.

Bei alten Menschen sind die Augen das Wichtigste. Ihre Gesichter sind eingefallen, die Haut ist schlaff und faltig, vor allem rings um den Mund, die Augen, die Nase und die Ohren. Ihre verhärmten Gesichter sind schwer zu entziffern. Von alten Menschen erfährt man nur etwas, wenn man ihnen in die Augen sieht. Die Augen enthalten ihre Lebensgeschichte.“ (Seite 82)

Dann fiel mir die Aufmachung des Buches auf. Zu Anfang eines jeden Kapitels, steht eine „Einleitung“. Sie erzählt, was mich als Leserin erwartet, beschreibt Landschaften, Gefühle oder Situationen, Dinge die sich ereignen werden oder auch nicht. Ich war dann immer ganz gespannt, was dann tatsächlich passierte. Man muss sich das ähnlich wie bei einem Theaterstück vorstellen, bei dem man vor Beginn ein Heftchen bekommt, in dem die einzelnen Akte beschrieben sind. Unter diesen Text findet ihr einen kleinen Auszug aus einem Kapitel …

Jeden Morgen führen sie dasselbe Gespräch, mit leichten Variationen, ein Gespräch, das sie nicht weiterbringt. Die beiden erleben ihre letzten Momente der Zweisamkeit. Bald werden zwei Neue zu der Gemeinschaft am See dazustoßen, eine kleine alte Dame mit großen schwarzen Augen und eine große, kräftige Frau, die die Legenden von Boychuck zum Vorwand nimmt, um ihnen einen Besuch abzustatten. (…) Und was ist mit der Liebe? Nun, die Liebe muss noch etwas warten, ihre Zeit ist noch nicht gekommen.“ (Seite 68)

Was mich jedoch am allermeisten berührt hat, war die Geschichte um diese alten Menschen. Die Autorin Jocelyne Saucier hat es geschafft eine wundervolle Hommage an das Alter und das Älter werden geschrieben. Mit ihrem eigenwilligen Stil (viele verschachtelte Sätze, was ich jedoch sehr mag) und ihrer poetischen Sprache schafft sie es die Gefühle und Gedanken dieser Menschen zu transportieren.

Wir leben in einer Zeit, in der es immer mehr ältere Menschen gibt. Jocelyne Saucier zeigt mit dieser wundervollen Geschichte, dass es keine Altersgrenze für die Liebe, den ersten Kuss, den Freiheitsdrang, die Hoffnung und dem Leben selbst gibt.

Für mich ist dieses wundervolle Buch eines der Bücher in 2015!
Chapeau Jocelyne Saucier ♥♥♥

Die alten Leute wurden ihr wichtiger, als sie je gedacht hätte. Sie liebt ihre brüchigen Stimmen, ihre verlebten Gesichter, die langsamen Bewegungen, ihr Zögern, wenn ein Wort nicht einfiel oder eine Erinnerung sich nicht greifen lassen wollte. Die Fotografin liebte es, wie die Alten auf dem Strom ihrer Gedanken dahintrieben und manchmal mitten im Satz einschliefen. Das hohe Alter schien ein Hort der Freiheit zu sein, wo man sich keinen Zwängen mehr unterwirft und seinen Geist auf Wanderschaft schicken kann.“ (Seite 85/ 86)