Rezension

Absolut fesselnd

Midnight Cowboy - James Leo Herlihy

Midnight Cowboy
von James Leo Herlihy

Bewertet mit 5 Sternen

„Midnight Cowboy“ ist ein wunderbares Buch – das ein bisschen was von einem Zugunglück hat

Man sieht den Zug auf den Abgrund zu rasen, kann aber den Blick nicht abwenden. Joe Buck, ein gutaussehender, aber wenig intelligenter junger Mann, versucht sich an seiner Variante des amerikanischen Traums: vom Tellerwäscher in Houston zum erfolgreichen Gigolo in New York. Sein Scheitern, seine Enttäuschung wird von Herlihy so eindringlich beschrieben, dass es mir wirklich unter die Haut gegangen ist.

Zunächst schien mir Joes Dummheit fast schon zur Karikatur abzudriften, dann erschien sie mir vor dem Hintergrund seiner umfassenden Einsamkeit immer glaubwürdiger. Joe wächst als Kind zunächst bei drei Prostituierten auf, bei denen er sich nicht mal sicher ist, welche seine Mutter ist. Später wird er dann zur Großmutter abgeschoben, die ihn ebenso vernachlässigt. Die einzige Person, die sich eine Weile zumindest wirklich mit Joe befasst, ist ein Liebhaber seiner Großmutter in Cowboy-Montur. Ansonsten verbringt er seine Jugend vor dem Fernseher. Er findet keine Freunde, weil er nie gelernt hat, sich mit jemandem zu unterhalten und die sozialen Codes nicht kennt. Als einziger Gesprächspartner dient ihm sein Spiegelbild. Hier werden die tiefgreifenden Konsequenzen seiner Vernachlässigung deutlich; zu seiner Entwicklung und Identitätsbildung braucht der Mensch andere Mitmenschen, die sich mit ihm auseinandersetzen.

Joe aber wird, sofern man ihn überhaupt wahrnimmt, meist nur als Mittel zum Zweck gesehen – meist als Sexobjekt. So erfindet er sich dann irgendwann als Cowboy neu und fasst seinen Plan, als Gigolo in New York reich zu werden. Was ihn tatsächlich erwartet, ist Armut, Hunger, sexuelle Gewalt. Und doch findet er hier einen Freund: Rico Rizzo, ein gehbehinderter, cleverer kleiner Gauner. In all ihrem Elend halten diese beiden zusammen, und Joe macht schlussendlich ein paar Fortschritte Richtung Selbstreflektion und fasst einen halbwegs vernünftigen Entschluss für sein späteres Leben. Wir wissen nicht, was weiter aus ihm wird – ich hoffe, Ricos Freundschaft hat ihm das nötige Rüstzeug mitgegeben, sich in dieser Welt zurechtzufinden.

Ich kenne zwar die Orignialversion nicht, aber die Neuübersetzung von Daniel Schreiber wirkt sehr gelungen. Von Schreiber gibt es zudem noch ein Nachwort, das Joes Geschichte in einer Tradition der Einsamkeit verortet – der Einsamkeit all jener, deren Sexualität nicht in das heterosexuelle Raster passt und die sich selbst bis vor kurzem meist ihr Leben lang verstecken und verleugnen mussten.