Rezension

Eine Art Kafkascher Axt!

Zwei Brüder - Mahir Guven

Zwei Brüder
von Mahir Guven

Bewertet mit 5 Sternen

Ein ärgerliches Buch! Warum dieser Roman einen begehrten Preis erhielt, erschliesst sich erst gegen Ende.

„Zwei Brüder“ hat 2018 den Prix Goncourt als bester Debütroman erhalten. Sehr zu Recht, befindet das Feuilleton. Eine Meinung, die ich zunächst ganz und gar nicht teilen mochte.

Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Roman mich richtig in Rage versetzt. Wie es „Zwei Brüder“ getan hat. Da wäre zuerst einmal die Vulgarität der Sprache zu rügen. Die nicht allein vulgär ist, sondern auch gebrochen erscheint, dennoch überheblich rüberkommt, durchsetzt mit Milieuvokabular, das wahrscheinlich nicht übersetzt werden kann und deshalb im Deutschen unbeholfen klingt.

Der Große Bruder und der Kleine Bruder bestreiten zusammen einen Monolog. Der Große Bruder trägt den Großteil der Erzähllast. Er ist gescheitert. Sein Vater, Taxifahrer, Immigrant aus Syrien, wo er gefoltert wurde, ist gescheitert. Dieses Urteil fällen die Brüder, denen es nicht genügt, dass sie in Frankreich einen Lebensentwurf versuchen dürfen, der in Syrien gar nicht möglich gewesen wäre. Die beiden Brüder durchlaufen das französische Schulsystem, versuchen sich anzupassen, leben im Banlieue und sind von Beruf unzufrieden und undankbar.

Immer sind die anderen schuld: „In diesem Land haben Menschen wie ich keinen Platz an der Sonne … . Man will sie nicht. Keiner sagt ihnen, wie es geht“, sagt der Kleine Bruder, der Pfleger in einem Pariser Krankenhaus ist, gefördert wird von einem indischen Chirurgen, dennoch nicht Medizin studieren will, weil es ihm zu lange dauert. Sich aber inständig darüber beklagt, dass die Ärzteschaft das Pflegepersonal nicht für voll nimmt. Der Kleine Bruder kann diese Tatsache aber nicht auf den natürlichen Autoritätskonflikt zwischen beiden Parteien abstrahieren, natürlich rühren die Probleme allein daher, dass er "nicht dazugehört". Immer alles persönlich nehmen! Ich bin auf 180! Und nehme es auch persönlich.

Weil nicht von außen berichtet wird, sondern nur von innen, wobei der geneigte Leser meist eine andere Position einnimmt als die Erzähler, also die zweite Generation, die bereits in Frankreich geboren ist, versteht man lange Zeit die Probleme nicht, die die Brüder haben. Obwohl der Große Bruder sich redlich Mühe gibt, die Sache auszuleuchten. Er war in der Armee, um sich eine Position zu verschaffen.

Vater und Großer Bruder sind Pragmatiker, doch der Kleine Bruder will wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und erlebt eine ausgewachsene Identitätskrise. Warum das so ist, versteht der geneigte Leser nur so von ungefähr. Auch der Große Bruder versteht es nicht ganz.

Kleiner Bruder kommt zu keinen befriedigenden Ergebnissen und haut letztendlich heimlich nach Syrien ab, nach al-Scham, Fachbegriff dafür im Viertel. Dort will er helfen, seinem Volk helfen (hallo, er ist Franzose!). Die Wirklichkeit dort ist anders, als er es sich vorstellte: „Es gibt Wege, da kannst du noch kehrtmachen, und andere, wenn du da einen Fuß draufsetzt, ist es vorbei“, sagt der Große Bruder.

Als der Kleine Bruder wieder zurückkommt, kommt die Geschichte langsam ins Rollen, alle geraten in Gefahr. Einfach weil der Kleine Bruder seinen Fuß auf diesen Weg gesetzt hat, auf dem es kein Zurück gibt. Shit aber auch. Sagt der Große Bruder.

Die geneigte Leserin war diesem Roman aus vorgenannten Gründen abgeneigt. Es wird nichts erklärt. Man muss hinnehmen. Raten. Denken. Sich einfühlen.

Doch hintenraus hat sie der Roman umgehauen. Er ist ein bisschen wie die gefrorene Axt von Kafka, denn die geneigte Leserin hat sich geärgert, innerlich gewütet, mit sich und dem Autor diskutiert (woher kommt die innere Immigration, ist sie wirklich zwangsläufig?), die Brüder gewürgt, den Vater bedauert, und viel nachgedacht. Na ja: genau so soll ein Roman sein. Er soll einen aufregen. Und nicht mehr loslassen.

Fazit: Sehr „aufregender“ Roman, der deine Nerven zerfetzt, wenn du politisch ganz anders drauf bist – und der dich hintenraus dann doch kriegt.

Kategorie: Politischer Roman. Debüt.
Verlag: Aufbau Verlag, 2019