Rezension

21. Juli 1969

Wo wir waren - Norbert Zähringer

Wo wir waren
von Norbert Zähringer

Bewertet mit 5 Sternen

Am 21. Juli 1969 betritt der erste Mensch den Mond. Und von dieser Nacht ausgehend, erzählt Zähringer die Geschichte seiner Protagonisten. Er springt dabei in den Zeitebenen, verschränkt die Leben seiner Charaktere miteinander und schafft so ganz unaufgeregt das Panorama eines ganzen Jahrhunderts.
Man muss aufmerksam lesen, denn nebenbei Erwähntes wird wieder aufgegriffen, Personen oder Ereignisse tauchen in anderen Zusammenhängen auf, müssen neu bewertet werden. Das geschieht ohne überzogene Dramatik, die Erzählweise ist ruhig. Das hilft dem Leser den Überblick zu behalten zum einen, zum anderen aber auch das zu ertragen, was da erzählt wird. In einem Jahrhundert mit gleich zwei Kriegen gibt es eben nicht nur schöne Momente. Von Bombennächten ist die Rede, aber auch von Kindesmissbrauch in Waisenheimen, von Selbstmordversuchen. Der Bogen reicht von den Gräben des Ersten Weltkrieges bis zum IT-Boom der Achtziger.
Beeindruckend ist dieser Roman, sprachlich und inhaltlich. Vor allem kommt er ohne die derzeit so beliebten fiktiven Welten, ohne plakativen Fingerzeig auf Mißstände aus. Den Finger auf die Wunde legt Zähringer trotzdem. Er läßt dem Leser allerdings den Spielraum selbst zu denken. Das ist eine selten gewordene Kunst und daher ist es umso erfreulicher, wenn sie so souverän beherrscht wird.
"Wo wir waren" steht zwar auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis, ist aber das Buch, von dem man, zumindest war das mein Eindruck, am wenigsten gehört hat. Das empfinde ich als überaus bedauerlich, wäre es doch in meinen Augen ein verdienter Shortlist-Kandidat gewesen. Denn wo findet man noch Autoren, die lange Bögen schlagen können ohne den Erzählfaden zu verlieren, die Weitwinkel statt Makroaufnahme wählen, große Bühne statt Kammerspiel?
2001 erschien Norbert Zähringers Debüt. Seitdem hat er nur vier weitere Romane herausgebracht. Auch das ist selten geworden: ein Autor, der seinen Texten Zeit gibt. Einen Eindruck davon gibt die Rechercheliste am Ende des Romans.
Wer also wirklich großartige Literatur lesen möchte, der sollte "Wo wir waren" eine Chance geben...