Rezension

Am Leben bleiben

Zweiundzwanzig - Jean-Philippe Blondel

Zweiundzwanzig
von Jean-Philippe Blondel

Bewertet mit 4.5 Sternen

~~Angefangen hat die Entstehungsgeschichte dieses schmalen Buchs mit der Antwort auf eine post des Erzählers. Er war betrunken, vielleicht ein bisschen rührselig und verirrte sich auf die Homepage eines ehemals geliebten Sängers, Lloyd Cole. Er schrieb darin, wie sehr dessen Lied "Rich" ihn in einer sehr schweren Phase seines Lebens begleitet hat. "Eine Geschichte, die niemand glauben würde.", "weil die Fantasie, anders, als es immer scheint, doch ihre Grenzen hat." Die Neugier eines anderen Homepage-Besuchers ist geweckt und für den Erzähler der Stein ins Rollen gebracht, der Stein, der Erinnerung heißt. Erinnerungen, die 25 Jahre zurück gehen, in das Jahr, in dem er, vier Jahre nach dem für Mutter und Bruder tödlichen, vom Vater verursachten Autounfall auch diesen auf die gleiche Weise verliert. Sehr eindrücklich erzählt er, wie er dadurch endgültig den Boden unter den Füßen verliert. Bereits vorher war das Verhältnis zu seinem Vater äußerst problematisch, seine langjährige Freundin Laure war gerade dabei, auszuziehen und mit seinem besten Freund Samuel eine Beziehung aufzubauen. Der Song "Rich" erzählt vom kalifornischen Morro Bay. Und dorthin will er sich aufmachen, den Schatten seines Lebens, seinen Ängsten entkommen. Er nutzt sein Erbe und kauft kurzerhand drei Tickets nach Amerika, für sich, Laure und Samuel. Die drei machen sich in einem Thunderbird von San Francisco aus auf den Weg durch Kalifornien, machen einen Abstecher nach Mexiko, alles ziemlich ziel- und planlos, treffen auf unterschiedliche Menschen. Laure und Samuel geben dem Erzähler dabei viel Halt, er schwankt noch zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht. Die Geschichte ist sehr eindringlich und knapp erzählt. Manchmal ein wenig zu knapp, über die Familie erfährt man recht wenig, die Freunde bleiben auch relativ blass, sogar der Erzähler, der doch hauptsächlich um sich, sein Erleben, den Verlust seines Farbempfindens kreist, wird nicht wirklich greifbar. Dafür gelingen ihm berührende Miniaturen über Menschen, die ihren Weg kreuzen, poetische Bilder der Natur, eindrückliche Stimmungen. Der Ton ist eher melancholisch, auch wenn man in all der Tragödie den Lebenswillen spürt, den der Erzähler hat - er ist ja auch erst 22. Am Leben bleiben - "Et rester vivant" ist auch der Originaltitel des Romans. Roman, obwohl er sehr eng die eigenen Erlebnisse des Autors Blondel schildert. Ein Buch, das nach der Lektüre noch intensiver wirkt und sicher nicht so schnell in Vergessenheit gerät. In einer französischen Kritik stand etwas, das ich sehr treffend fand: "Es ist wie bei einer Wunde: Am Anfang spürt man nichts. Aber später, wenn man dieses imponierende Buch geschlossen hat, dann leidet man."