Rezension

Anna who?

Manja - Anna Gmeyner

Manja
von Anna Gmeyner

Bewertet mit 5 Sternen

Anna Who?
So ist das Nachwort zu Anna Gmeyners erstmals 1938 im Exil erschienenen Roman "Manja" betitelt und bezieht sich auf eine Aussage des sich in der Exilliteratur sehr gut auskennenden Autors und Journalist Klaus Harpprecht. 
Auch ihm war bislang weder Autorin noch Werk bekannt, und so geht es sicher auch den meisten Lesern. 

Um so erfreulicher ist es, dass der Aufbau-Verlag "Manja", nachdem die Neuauflage im kleinen Persona-Verlag 1984 erwartungsgemäß nur einen beschränkten Leserkreis erreichte und nach der hochgelobten Hörfassung mit Iris Berben 2007, erneut veröffentlicht. 
Denn dass es sich hier um ein ganz wunderbares Stück Exilliteratur handelt, wird dem Leser sehr bald klar.

Erzählt wird die Geschichte von fünf Kindern und ihren Familien von 1920 bis 1934 in einer nicht näher bezeichneten deutschen Stadt. 
Die Autorin nimmt uns dabei mit zurück bis zur Zeugung der Kinder in einer einzigen oder doch in sehr eng beieinander liegenden Nächten. So nah sich die Kinder im Zeitpunkt ihrer Entstehung sind, so fern sind sich die Familien in denen sie aufwachsen. Anna Gmeyner schafft mit ihnen einen Querschnitt durch die damalige deutsche Gesellschaft. 

Da ist der bildungsbürgerliche, humanistisch gesinnte Arzt Heidemann, seiner Frau in tiefer Liebe verbunden und finanziell recht gut gestellt. 
Da ist die kleinbürgerliche Familie Meißner, von Existenzsorgen geplagt, Frau und Kinder unter dem patriarchalischen, gewaltbereiten Vater leidend, von ihm aber natürlich völlig abhängig.
Da ist die Arbeiterfamilie Müller, der Vater ein tätiger Kommunist, die sich in ihr kleines, aber zufriedenes Leben fügen.
Schließlich der Großindustrielle Hartung, aus kleinen jüdischen Verhältnissen geflohen, aus eigener Kraft zu enormem Reichtum und einer standesgemäßen Frau gekommen. Voller Hass auf seine Herkunft sucht er die Integration in die deutsche Gesellschaft, was ihm, wir wissen es, nicht gelingen wird.
Und da ist noch Manja, ostjüdisches Mädchen, "die aus Polen", die sich mit ihrer alleinerziehenden Mutter, labil und lebensuntüchtig, und zwei Brüdern mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen muss. Sie ist der geliebte Mittelpunkt der Freundesgruppe, bestehend aus den vier Söhnen der Familien und ihr.
Auch der verarmte Adlige von Adrian darf nicht fehlen, die bösartige Hausverwalterin und die stramm nationale Oberschwester.

Das könnte enorm konstruiert und künstlich wirken, würde es Anna Gmeyner nicht auf wunderbare Weise gelingen, allen diesen Personen ein ganz individuelles Leben einzuhauchen, sie gekonnt miteinander zu verknüpfen, ihnen neben ihrer Rolle auch ganz persönliche Nuancen zuzubilligen. Sie lässt sich, der Geschichte und ihren Figuren die nötige Zeit, um sich zu entwickeln.

Natürlich fließen hier die Zeitereignisse in Deutschland ein. Man erlebt mit, wie sich mehr und mehr Intoleranz und Gewalt breit macht, der schlummernde Antisemitismus hellwach wird, während bürgerliche Werte und Ansichten mehr und mehr dahindämmern. Nach der Machtübernahme 1933 bricht dies alles offen aus. 
Aber das Buch macht auch deutlich, das diese Entwicklung keineswegs über Nacht kam. 
Dr. Heidemann, verwundet im Ersten Weltkrieg:

 "Nach dem Krieg, verstehst du, als wir wiederkamen, da habe ich geglaubt, was man da erlebt hat, was keiner überlebt hat, das wird nie wiederkommen, das war das letzte Mal (...)eine Zeit sah es aus, als ob das Land anders geworden wäre, weiter, menschlicher. Stimmt nicht. (...)Und jetzt, langsam, von allem Seiten schleicht sich´s wieder ein..." 

Der erfolgreiche jüdische Bankier Hartung wirft von Adrian zurecht vor

 "Sie werden schießen, weil sie in Stulpenstiefeln zur Welt gekommen sind und ich mir erlaubt habe, aus eigener Kraft eine Stellung zu erobern, die Sie aus Schwäche nicht halten konnten." 

Dr. Heidemann, und mit ihm Anna Gmeyner, versucht sich auch in der Analyse: 

"Ich sehe die Rache, die das zwanzigste Jahrhundert am neunzehnten nimmt. Die Reaktion auf die Überschätzung der Menschheits- und Freiheitsidee, die zur Schablone geworden war, blind gegen die Wirklichkeit, dass die meisten keine andere Freiheit hatten als die zu sterben."

Überhaupt beweist Anna Gmeyner in ihrem Text wie viele Exilautoren eine beeindruckende Klarsicht, eine mutige Offenheit gegenüber den Geschehnissen. 
Fast alle der Figuren, mit Ausnahme vielleicht des stramm nationalsozialistischen Anton Meißner leiden unter dem "neuen Geist", der in Deutschland herrscht. Aber

 "als ob das so leicht ginge, dass alle Einsamen sich ganz einfach vereinigten, als ob nicht zwischen dem einem und dem anderen die ganze Welt läge. Selbst der gleiche Stoß trifft jeden anders." 

Und so sind auch die Auswege, die die Personen wählen jeweils andere: Flucht, Untergrund, Rückzug. 

"Wenn man nicht ein bisschen Distanz zu den Dingen hätte, könnte man es manchmal wirklich nicht aushalten. Ich sitze jeden freien Augenblick bei den Büchern. Telefon und Radio abgestellt. Das ist meine Insel." 

So Dr. Heidemann. 

Zu dieser bedrückenden Welt der Erwachsenen schafft Anna Gmeyner aber eine Gegenwelt, fast eine kleine Utopie in der Welt der Kinder, ihrer großen Solidarität und Freundschaft zueinander, ihrem kleinen Reich an der Mauer, an der sie sich immer treffen. Um so bitterer, dass diese Utopie am Ende zu scheitern scheint - ein Sinnbild für die Menschlichkeit in Deutschland?
 
Anna Gmeyner schreibt in einem berührenden Ton, der auch das Pathos nicht scheut, bildreich, poetisch, berührend. Ein ganz wunderbares, sehr zu empfehlendes Stück Literatur.

Das Ende ist traurig, wenn auch nicht ganz hoffnungslos. Und kein Leser wird in Zukunft das Sternbild der Kassiopeia mit ihren fünf, ein W oder eben ein M wie Manja bildenden Sternen einfach so betrachten. Steht es doch für die Freundschaft der Kinder und für den Beginn dieses schönen Romans: 

"Einen Augenblick lang hatte die Kassiopeia deutlich mit ihren fünf strahlenden Endsternen über dem Kirchturm gestanden. Nun verschwand sie sehr schnell unter schwarzen, treibenden Wolken."