Rezension

Armut erhebt eine Stimme.

Armut -

Armut
von Daniela Brodesser

Bewertet mit 3 Sternen

Kurzmeinung: Man spürt die Wut!

Daniela Brodesser geht als Frau Sonnenschein auf Twitter viral. Als sie sich Luft macht und anfängt sich zu beklagen, findet sie allmählich aus der Anonymität heraus und aus der Scham, erzählt ihre Geschichte öffentlichkeitswirksam und trägt dazu bei, dass das Armutsproblem in Österreich und Deutschland von der Politik bemerkt wird. Denn die Armut hat keine Lobby. 

Das Büchlein „Armut“ ist eine Mischung aus Erfahrungsbericht, ein winziges bisschen Ratgeber, Anklage gegen den Staat und die Gesellschaft, hauptsächlich ein Wutschrei, eine knappe Schilderung der Faktenlage, mehr willkürlich als umfassend - und von Forderungen, politischen Forderungen wohlgemerkt, die aber wiederum nicht konkret ausformuliert sind, sondern schwammig bleiben. Die bemerkenswerteste Forderung ist die, nach einem respektvollen Umgang mit Menschen, die unterhalb der jeweils von jedem Land anders definierten Armutsgrenze leben. Der Amtsschimmel wiehert leider laut und willkürlich. 

Von ihrer Lebensgeschichte greift die Autorin zwar einige markante Punkte heraus, doch eine Biografie schreibt sie nicht. Dabei hätte ich mich durchaus dafür interessiert. Vielleicht in einem zweiten Buchprojekt? Auch was ihrer „Armutskarriere“ betrifft, fasst sie sich kurz: Ich musste „Essen herzaubern, wo kein Geld mehr dafür vorhanden war, musste Ängste wegstecken lernen, lernen, mit Vorurteilen umzugehen, überlegen, welche Situationen vermeidbar waren“. Es hätte mich sehr interessiert, wie sie das gemacht hat. Wie zaubert man Essen her, wo kein Geld mehr dafür vorhanden ist? Leider verrät uns die Autorin darüber nichts.
Womit sie sich auch nicht beschäftigt, sind sozialethische Fragen. Ist der Staat seinen Bürgern etwas schuldig? Und wenn ja, im Austausch wofür? Und wieviel? Und wieviel ist genug? Und warum? Ist die Gesellschaft dem Einzelnen etwas schuldig, und wenn ja, wiederum warum? Es steht für die Autorin unhinterfragt fest, dass der Sozialstaat seinem Namen mehr Ehre machen muss, als seine Bürger nicht verhungern zu lassen. Aber das ist noch lange nicht ausgemacht. Die vielen individuellen Hilfen, die sie nicht explizit nennt, aber gemeint sind wohl Kleiderkammern, Tafel, Sozialkaufhäuser, etc. - sind für sie nur eine Ausrede für den Staat, nichts zu tun. Aber der Staat kann nicht alles stemmen. Tatsächlich braucht er seine Ehrenbürger. Diese Institutionen sind übrigens, wenn man es genau nimmt, auch Teil eines funktionierenden Staates. Wie unterscheidet sich der Staat von der Gesellschaft?
Worüber sich die Autorin ganz zu Recht auslässt, das ist die mangelnde Kompetenz von amtlichen Beratungsstellen und die Unübersichtlichkeit der sozialen Gesetzgebung. Mit mangelnder Kompetenz geht Personalmangel einher und eine herablassende Behandlung. Tatsache ist, wer kein Geld hat, wird herumgeschubst. Und die sozial Benachteiligten gehen der Politik am Hinterreifen vorbei. Weil, wie gesagt, Armut keine Lobby hat.
Auch von der Undurchlässigkeit der Bildungsschichten ist die Rede. Allerdings wieder viel zu knapp. Ja, die Bildungsdurchlässigkeit im Schulsystem ist rein theoretisch. Darüber kann man ein eigenes Buch schreiben.
Vor dem genannten Hintergrund sind Erfahrungsberichte wie dieser wichtig und der Weg in die Öffentlichkeit unverzichtbar. Damit die Armut eine Stimme bekommt. Damit sie sich organisiert und erklärt, wir sind Wählerstimmen. Ungerecht sagt sie, ist die Welt. Das stimmt. Ungerecht die Gesellschaft. Das stimmt auch. Eigentlich das Gesellschaftssystem. Aber gibt es ein gerechtes Gesellschaftssystem? War der Kommunismus gerecht? Es gibt Ansätze zu Verbesserungen, zum Beispiel durch das bedingungslose Grundeinkommen. Aber leider ist "Armut" auch kein richtig politisches Buch und äußert sich infolgedessen nicht zu neuen sozialpolitischen Modellen. Es ist von allem etwas, aber vor allem, in meinen Augen, nicht fertig.
Mit Steuerhinterziehung verlöre der Staat mehr Geld als er durch Sozialbetrug je verlieren könnte. Ja, aber was sind die Folgerungen? Sollte man das eine nicht bekämpfen wie das andere? Eigentlich beschwert sich Frau Brodesser ja über den Kapitalismus. Über seine Auswüchse und seine Opfer. Denn Armut ist nichts anderes als ein Auswuchs des Kapitalismus. Leider benennt sie ihn nicht als Ursache.

Fazit: Das Büchlein ist wichtig, auch wenn es nicht perfekt ist und unausgegoren wirkt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es greift zu kurz. Die vielen Gendersternchen haben mich nachhaltig gestört.

Kategorie: Erfahrungen
Verlag: Kremayr & Scheriau, 2023

Kommentare

Emswashed kommentierte am 21. März 2023 um 18:28

Normalerweise kommen die Betroffenen bei RTL2 zu Wort und Bild, selten schreiben sie Bücher. Und die zweite Frage wäre doch, ob die Leser des Buches genug Einfluss auf politische/eigentlich wirtschaftliche Entscheidungen haben... wohl kaum.

wandagreen kommentierte am 21. März 2023 um 21:03

Jede Stimme zählt, Emsi. Wir sind Wähler.