Rezension

Auf der lemschen Umlaufbahn

Provokationen - Stanislaw Lem

Provokationen
von Stanislaw Lem

Bewertet mit 5 Sternen

Auf Lem muss man sich einlassen. Was er zu sagen hat, ist zugleich aus der Zeit gefallen und doch futuristisch. Es ist wohldurchdacht und schmerzhaft logisch. Seine Romane kann man durchaus mit einem Augenzwinkern lesen, bei seinen Sachtexten aber ist er unschlagbar stringent, fast schon verletzend.

Der Sammelband enthält vier Texte, die losgelöst voneinander stehen könnten, dennoch den Menschen (oder dessen Habitat) als Bindeglied aufweisen [Angesicht der Zuordnung zur SF, hätten es ja auch Aliens oder AIs sein können]. Er beginnt mit einer Buchbesprechung und endet auch mit einer solchen und entmutigte mich ein Stück weit, jemals selbst eine vollständige Rezension zustande bringen zu können. Erstaunlicherweise erwähnt Lem dabei zwei Klassiker, anfangs Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch", welches ich kürzlich las und schließt mit Thomas Manns' "Doktor Faustus", dem ich mich im Januar verpflichtet habe. So bekommt dieses Büchlein den Status der perfekten Interimslektüre - wer konnte das ahnen!

In diesem Jahr hätte er seinen 100. Geburtstag gehabt. Auch das war mir nicht klar, als ich dieses alte Schätzchen auf meinen Lesestapel gelegt habe - im Vorwort ist Lem noch quicklebendig.... aber nun denn, kommen wir zum Gelesenen.

Auf die Besprechnung des Buches "Eine Minute der Menschheit" von Johnsen und Johnsen möchte ich insoweit nicht eingehen, als dass man die Dimensionen der Statistik nicht an sich rankommen lassen möchte und jegliches persönliche Schicksal der millionenfachen Alltäglichkeit (Minütlichkeit) unterordnen will. Es kann Trost spenden, wenn man sich auf diese nüchterne Betrachtung des Lebens auf der Erde einlassen will, es könnte aber auch verrückt machen.

Da ist "Waffensysteme des 21. Jahrhunderts" absurderweise schon menschlicher, wenn man den Umstand der Hochrüstung im Kalten Krieg ausblendet, bzw. solange erträgt, bis man erfährt, was ihr vorläufiges Ende sein könnte. Ein paar Ideen davon transportiert Lem in seinen SF-Romanen.
Die Herleitung der Aufrüstung bis zur völligen Sinnlosigkeit, ist eine ziemlich rasante, gespickt mit lemschen Wortfindungen. Sieht man vom Thema ab, ist es eigentlich ziemlich amüsant zu lesen und sprudelt über von Ideen. Es hinterlässt Widerhaken im Kopf und will bestimmt noch einmal gelesen werden.

Noch einen Schritt vom Menschenantlitz zurückgetreten, beschäftigt Lem sich im dritten Text "Das Katastrophenprinzip" mit der Geburt unseres Sonnensystems, dessen Wahrscheinlichkeit, oder besser dessen Unglaublichkeit. Entgegen der verbreiteten Theorie, dass aller Statistik nach, noch sehr viel mehr Planeten mit inteliigentem Leben da draußen im All existieren müssten und auch solche Programme wie SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence) ins Leben gerufen haben, vertritt er eine andere Haltung und begründet diese auch sehr nachvollziehbar. Es bedurfte zweier allumfassenden Superkatastrophen, dem Lauf unseres Sonnensystems durch die Spiralarme unserer Galaxi, um dem Zufall Gelegenheit zu geben, jetzt, in der Ruhezone, eine angenehmere Atmosphäre für Leben auf der Erde zu schaffen.
Ich mag die gigantischen Zeiträume, mit denen hier gerechnet wird, da muss ich mir aktuell keine Sorgen um meine Rentenansprüche machen, haha.

So beschwingt fällt man dann auch unvermittelt in den Abgrund des 4. Textes "Provokation", der in der Mehrzahl dem Band seinen Namen gibt. Lem bespricht dort Horst Aspernicus' Buch "Der Völkermord". Erfolgreich zurückgekehrt auf die Erde, erwartet den Leser die Analyse der dunklen Seite der Menschheit. Von der reinen Notwenigkeit, seine Feinde umzubringen, weil sie sich rächen könnten, oder weil man deren Lebensraum übernehmen will, bis zur sadistischen Inszenierung des Völkermords im Dritten Reich, einschließlich perfider Rechtfertigung. Dort einer logischen Linie bis zum Scheitern des Nazistaates zu verfolgen, wühlt, trotz des Sieges der Alliierten, immer noch allerei Gedankenschlamm auf, der Angst verbreitet. Angesichts der wiedererstarkenden Rechtsextremisten, die die alten "Argumente" in frischem Gewand präsentieren, wohl keine allzu anstrengende Denktätigkeit.

Nun, Lem ist nicht immer wohlgefällig, aber immer lohnend. Kleines Büchlein, starker Tobak.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 12. Dezember 2021 um 09:21

Gelesen.
 

Emswashed kommentierte am 13. Dezember 2021 um 07:34

Brav!