Rezension

Auflösung

Nie mehr Nacht - Mirko Bonné

Nie mehr Nacht
von Mirko Bonné

Bewertet mit 4 Sternen

Markus Lee ist mit seinem pubertierenden Neffen im Auto unterwegs in die Normandie. Mit dabei ist die große Trauer der beiden über den Selbstmord von Ira, Schwester und Mutter der beiden. Markus Lee hat als Zeichner den Auftrag, im Zweiten Weltkrieg umkämpfte Brücken auf Papier zu bringen und soll auf dem Weg Jesse bei Freunden, die ein ramponiertes Hotel über die Wintersaison einhüten absetzen. Dieser erste Teil ist eine Roadnovel, in der sich Markus und Jesse auf engstem Raum einander und ihrer Trauer annähern müssen. Mit dabei sind zwei weitere Lees, nämlich Heinrich Lee aus Gottfried Kellers berühmten Roman "Der grüne Heinrich" und die Kriegserinnerungen eines McCoy Lees. Daneben Cds von Nirvana und vor allem der Band Joy Division, deren düsterer Song "She´s lost control" eine Rolle spielt. Überhaupt ist der Roman voller Bezüge auf literarische, musikalische und künstlerische Werke, so z.B. Alfred Sisleys "Überschwemmung in Port-Marly". Im Hotel "L´Angleterre" angekommen, verbringen die beiden eine Woche mit der herzlichen Familie von Jesses Freund. Doch Markus versinkt immer mehr in seiner Trauer, kommt sich und seinem Zeichenauftrag auch mit zunehmender Beschäftigung mit den Kriegsereignissen mehr und mehr abhanden. Die Selbstauflösung ist nun sein Ziel, sukzessive trennt er sich von all seinem Hab und Gut, schließlich auch von Auto und Ausweispapieren. Nach der Abreise von Jesse und der befreundeten Familie verkriecht er sich im alten Hotel, kappt die Telefonleitung. Einzige Verbindung zur Außenwelt stellt die Sekretärin eines Gebrauchtwagenhändlers und eine Französin, die auf verblüffende Weise seiner verstorbenen Schwester ähnelt dar. Sehr elegisch, leise, gleichzeitig aber auch mit subtiler Spannung beschreibt Mirko Bommé diese Selbstaufgabe, diese Chronik einer Trauer. Von der Bewegung der Roadnovel zum lebhaft-herzlichen Aufenthalt mit der Familie und schließlich der völligen Verlassenheit und Ödnis führt der Roman auch zu einem Familiengeheimnis, das bereits ganz zu Beginn angedeutet, aber lange in der Schwebe gehalten wird: der inzestuösen Beziehung zwischen den Geschwistern. Zum Glück bewahrt der Autor aber immer Restgeheimnisse, die das zu Eindeutige meiden. Er verknüpft zudem diese private Tragödie mit der Tragödie der Hunderttausenden, die bei der Landung der Alliierten 1944 ihr Leben verloren. Eine Szene auf einem der riesigen Soldatenfriedhöfe dort hat mich sehr angerührt, auch weil mein eigener Onkel ebenfalls 19jährig genauso starb.
Markus Lees Geschichte erhält ein Happy-End, das allzu süßlich hätte werden können, wenn er nicht eine wunderbare Schluss-Idylle gefunden hätte. In der Hamburger Kunsthalle treffen sich noch einmal alle Protagonisten vor Alfred Sisleys wunderbarem Bild. "Überall Wasser. Was lag darunter? Weil so vieles versunken war, schien alles andere ans Licht gebracht und voller Wunder. Alles so, als würde es nie mehr Nacht."