Rezension

Beeindruckend und sprachgewaltig

Der Sommer der Schmetterlinge
von Adriana Lisboa

Bewertet mit 5 Sternen

„...Ihre Eltern hatten ihnen Schweigen und Heimlichkeit beigebracht. Bestimmte Dinge, Tatsachen,waren nicht benennbar. Nicht einmal denkbar...“

 

Maria Ines und ihre ältere Schwester Clarice wachsen in einem kleinen Ort in Brasilien auf. Maria Ines genießt ihre unbeschwerte Kindheit, bis im Alter von neun Jahren ihre kleine Welt zerbricht. Sie hat etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war .Die Wege der Schwestern trennen sich.

Viele Jahre sind vergangen. Jetzt ist Maria Ines zusammen mit ihrer Tochter auf den Weg zu ihrer Schwester. Dort aber wartet auch Tomas, ein Maler, für den Maria einst die Frau in Weiß war.

Die Autorin hat ein berührendes Buch geschrieben. Die Geschichte lässt sich zügig lesen. Dazu tragen die kurzen Abschnitte bei, die in sich gegliedert sind, und häufig Zeit und Art wechseln. Das verlangt Konzentration.

Maria Ines, die jüngere Schwester, war ein lebhaftes Kind, das gern seine Grenzen austestete und viel Phantasie hatte. Clarice gilt als fügsam, zurückhaltend, demütig, wohlerzogen. Die Mutter Otacilias, in einer unglücklichen Ehe gefangen, sah, was geschah und schwieg. Erst als es zu spät war, wurde Clarice zur Tante nach Rio de Janeiro geschickt.

So unterschiedlich wie der Charakter, so verschieden waren die Lebenswege der Schwestern. Dunkle Geheimnisse überschatteten die Jahre und bestimmten das Geschehen.

Beeindruckend ist der Sprachstil des Buches. Die Autorin versteht das Spiel mit Worten. Metapher reiht sich an Metapher. Häufig werden Aufzählungen von Vergleichen gewählt. Kurze Sätze, markante Wortgruppen wirken eindringlich und machen nachdenklich. Die Gespräche sind leise, kurz, behutsam, mehr verschweigend als aussprechend. Manche Aussagen kehren mehrmals wieder und erhalten dadurch eine besondere Bedeutung für das Geschehen. Nur an einer Stelle werden Beziehungen zur politischen Situation erwähnt. Das gibt dem Ganzen eine weiteren bedrückenden Aspekt. Über aller aber erscheint häufig das Bild der unbeschwerten Kindheit, wo es einen Hügel gab und bunte Schmetterlinge ins Tal schwebten. Die entscheidenden Szenen des Buches finden auf diesen Hügel statt. Der Autorin gelingt es, in die Tiefe der Psyche ihrer Protagonisten einzudringen. Angst und Schmerz, Hass und Verlorenheit durchziehen die Geschichte. Wie obiges Zitat zeigt, durchzieht das Schweigen die Jahre des Lebens. Das ist auch für die Männer an der Seite der Schwestern nicht einfach. Doch auch sie schweigen und akzeptieren, was geschieht. Und da ist der Vater, ein Vater, der Angst vor seinem Kind hat, der die Schuld im Alkohol ertränkt und ihr Ausmaß nicht begreift.

Das Cover mit den beiden Mädchen passt zum Thema.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es hat auf überzeugende und eindringliche Weise dargestellt, wie schnell ein Leben zerbrechen kann und wie schwer es ist, die Verletzungen der Vergangenheit zu überwinden.