Rezension

Beeindruckender historischer Roman

Wiederholte Geburten
von Dietmar Füssel

Bewertet mit 5 Sternen

„...Ich bin das Gestern. Ich bin das Heute. Ich bin das Morgen. Meine wiederholten Geburten durchschreitend bleibe ich kraftvoll und jung...“

 

Wir befinden uns im 13. vorchristlichen Jahrhundert in Ägypten. Tuja, die Frau des Arztes Maatuman gebiert ihr zweites Kind. Sie nennen den Sohn Merirê. Tuja überlebt die Geburt nur wenige Tage. Deshalb wirft ihm seine ältere Schwester später vor, dass er am Tod der Mutter schuld sei. Das bestärkt Merirê in seinem Entschluss, Frauenarzt werden zu wollen.

Im Reich der Hethiter ist die Pest ausgebrochen. Eine junge Frau aus dem Volke der Kummani wird dazu auserkoren, die Pest auf sich zu nehmen und das Land zu verlassen. Doch sie ist schwanger. Ein Holzfäller nimmt die Frau und ihre Tochter Lavinia bei sich auf.

Aus diesem beiden Anfängen entwickelt der Autor einen abwechslungsreichen Roman, der teilweise in Ägypten und später im Hethiterreich spielt. Dorthin wird Merirê als Frauenarzt in diplomatischer Mission gesandt und dort kreuzt sich sein Lebensweg mit dem von Lavinia.

Das Buch lässt sich gut lesen. Die Geschichte ist spannend und vielschichtig. Immer wieder ist die exakte und umfassende Recherche des Autors spürbar.

Aber die Handlung ist nur die eine Seite. Dem Autor gelingt es, interessante Protagonisten zu kreieren. Da ist zum einen Merirê, der oft ungeschickt agiert. Heute würde man ihn als Pessimisten bezeichnen. Allerdings bleibt er auch von Schicksalsschlägen nicht verschont. Zum anderen spielt Rahotep eine bedeutende rolle. Er ist Amunpriester, hochintelligent, logisch denkend, eine Führerpersönlichkeit, die nur ein Ziel kennt, den Willen des ägyptischen Herrschers umzusetzen und der Maat zu dienen. Lavinia entwickelt sich zu einer selbstbewussten jungen Frau. Für ihre Zeit ist sie gut gebildet und setzt ihre Fähigkeiten gekonnt ein.

Der Schriftstil des Buches ist nicht nur vielseitig, sondern ausgereift. Der Autor beherrscht das Spiel mit Worten und den Umgang mit Metaphern. Stellenweise führt er mich in die Tiefe der Philosophie. An anderen Stellen wieder berichtet er sachlich über Regeln, Gesetze und Feiertage in Ägypten und dem Hethiterreich. Wortwiederholungen dienen dem Unterstreichen wichtiger Sachverhalte. Die Gespräche zwischen Rahotep und Merirê führen mich in die Besonderheiten von Diplomatie und Politik. Hier ist Rahotep der Gebende und Merirê der Nehmende. Kursiv eingefügt werden historische Begebenheiten oder Texte. Die Vielfalt des Lebens wird einbezogen, sei es Geiz und Habgier, Eifersucht und Intrige, aber auch erste Liebe und Vertrauen. Ausführlich wird die Reise von Ägypten ins Reich der Hethiter dargestellt. Hier hätte ich mir allerdings eine Karte gewünscht. Immer wieder gelingt es den Autor, neue Spannungselemente einzufügen. Und dann gibt es Ruhepole, wo fast gleichnishafte Geschichten erzählt werden, wie sie damals in beiden Reichen üblich waren. Hier dominiert eine märchenhafte Sprache. Sie regen zum Nachdenken an und sind durchaus lehrreich für unsere Gegenwart.

Die Möglichkeiten der damaligen Medizin und die Vorstellungen der Ärzte über die Vorgänge im Körper werden gekonnt in die Handlung integriert.

Der Autor verwendet in seinen Roman einen weiteren Kunstgriff. Ab und zu gibt es kurze Kapitel, wo er die Handlung so fortschreibt, wie sie sein könnte. Am Ende aber heißt es: „...Dieses aber ist nicht geschehen...“ Es ist ein Spiel mit Möglichkeiten.

Das Buch hat genau 110 Kapitel. Obiges Zitat hat ebenfalls 110 Buchstaben. Zu jedem Buchstaben des Gedichts gibt es demzufolge ein Kapitel. Gleichzeitig beginnt und endet die Geschichte mit dem Gedicht.

Angefügt sind ein Personenverzeichnis, umfangreiche alphabetisch sortierte Erläuterungen, Belegung der Zitate und Quellen.

Das Cover mit dm hellen Stern am dunklen Himmel über den ägyptischen Fresko wirkt geheimnisvoll.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es hat mich in eine lange zurückliegende Zeit geführt,

mir vielfältiges Wissen darüber vermittelt und mich spannend unterhalten. Gleichzeitig war die Geschichte so geschickt gestrickt, dass das Ende eine Überraschung war. Nicht zuletzt hat mich der Schriftstil des Buches begeistert. Das Lesen war ein Genuss.