Rezension

Belangloses - berechnend veröffentlicht

Wo warst Du? - Anja Reich, Alexander Osang

Wo warst du?
von Anja Reich Alexander Osang

Bewertet mit 2 Sternen

Leider hat mich dieses Buch sehr enttäuscht. Durch Medienberichte, die den Wortlaut des Klappentextes in den Vordergrund stellten, hatte ich mir mehr erwartet. Er lautet:

"Stellen Sie sich vor, Sie sind Korrespondent in New York und haben gerade eine Jahrhundert-Katastrophe überlebt. Ein paar Meilen weiter wartet Ihre Frau mit den Kindern auf ein Lebenszeichen - wen rufen Sie an? Richtig: die Redaktion."

Ganz schön reißerisch, und meiner Meinung nach meilenweit am Inhalt vorbei. Diesen kann man nämlich einfach zusammenfassen als "belanglose Alltagsschilderung einer deutschen Familie in New York - zufällig am 11.9.2001" - mehr nicht. Gut, Alexander Osang fährt berufsbedingt tatsächlich nach Manhattan zu den brennenden Türmen. Als der erste einstürzt, ist er noch in sicherer Entfernung. Anstatt umzukehren rennt er aber (den Karriereschub vor Augen?!?) weiter rein und freut sich dann noch ganz doll, dass er nur 200m entfernt war (weil er jetzt darüber schreiben kann), als der zweite Turm einstürzt und die Staubwolke ihn umschließt. Vielleicht würde manch einer das tatsächlich mit "eine Jahrhundert-Katastrophe überlebt" beschreiben - ich finde es etwas zu übertrieben. Er ist da selbst hingelaufen! Ich kann nicht nachvollziehen, wie man dann pünktlich zum Jahrestag auf die Tränendrüse drückt.

Man merkt vielleicht schon: So ganz warm geworden bin ich mit dem Ehepaar Reich/Osang während des Lesens nicht. Zwischendurch war ich eher leicht genervt, manchmal gelangweilt, aber nie wirklich überzeugt, nie emotional ergriffen und auch mit der Sympathie hat es bei mir irgendwie gehapert.
Eigentlich finde ich die Schreibweise des Romans, in dem sich Anja Reich und Alexander Osang mit der Ich-Perspektive abwechseln, ganz gut gelungen - wobei er offensichtlich Arial als Schriftart bevorzugt, sie Times New Roman. So weit, so langweilig.
Denn beide erzählen die gleichen belanglosen Vorstadt-Familien-Details, bis es auch der letzte Leser verstanden hat. Erst redet er über seinen Jetlag und seine Marathon-Ambitionen. Dann redet sie über seinen Jetlag, die Wohnungssuche, die Stadtteilwahl und die Mülltonnen. Dann redet wieder er über die Familie, den Job und die Mülltonnen, dann wieder sie über die Familie und die Mülltonnen, und dann wieder er über die Wohnungssuche, die Familie und...(gähn)... die....(gähn)...Mülltonnen...JA, Herr Gott nochmal, ich weiß jetzt, dass die Müllabfuhr kommt!!!
Leider bleibt die Familiengeschichte bis auf die Tatsache, dass sie sich am 11.9. ereignet und der Herr Ehemann Journalist ist, auch genauso banal. Es wird mit den Kindern gespielt, versucht zu telefonieren und sich mit Freunden getroffen. Das ganze wird aufgepeppt durch einige tiefgründig-intelligent-philosophische Gedankengänge(oder das, was man dafür hält). Das finde ich eigentlich legitim. Immerhin kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die wahrscheinlich ganz banalen Gedanken einen normalen Morgens schon Minuten später vergessen waren. Wenn man sich dann zehn Jahre später Ersatz-Gedanken ausdenkt, kann man sich ja wenigstens richtig schön philisophisch geben.
Irgendwie war ich dafür aber nicht zugänglich. Der Jetlag der dafür sorgt, dass "die Zeit hinter mir her [geschleppt wird] wie eine Eisenkugel" (S. 10) oder eine Fotounterschrift, die lautet "Foto vor den Türmen, das jetzt nicht mehr passt", haben bei mir nur Kopfschütteln ausgelöst. Fotos der Familie gibt es aber reichlich in diesem Buch und das zeigt wohl auch was es eigentlich ist: Ein Familientag.

Auch schön fand ich eine Abschnittseinleitung von Frau Reich, als Herr Osang gerade das Haus verlassen hatte, um nach Manhatten zu fahren: "Unser Haus kommt mir plötzlich sehr groß, sehr leer vor. Alex ist weg, ich bin wieder allein, nur die Spuren seines Aufbruchs sind noch da." (S. 90). *Schnief* - jemand gestorben? Oder monatelang unerreichbar auf Weltreise gegangen? Nein. Er ist einfach nur zu einem außerplanmäßigen Arbeitstag aufgebrochen und sie ist mit der kleinen Tochter zu Hause geblieben. Warum so melodramatisch?

So habe ich das gesamte Buch empfunden. Ein mit möglichst emotional-schwülstigen Formulierungen aufgebauschter Tag einer Familie. Ich will ja auch nicht ausschließen, dass der 11.9. wirklich ein einschneidender Tag im Leben der Familie war, aber das ganze ist so inhaltsleer geschrieben, dass mir davon nichts vermittelt wurde, ich mich nicht einfühlen konnte und absolut gar keine Sympathie entwickelt habe. Ich hatte mir wirklich mehr davon versprochen.
Jetzt bin ich enttäuscht, dass ich mehr über Mülltonnen, NewYorker Mietpreise und ein bisschen bürokratischen Aufwand gelesen habe, als über den 11.9., zu dessen 10. Jahrestag das Buch ja immerhin pünktlich platziert wurde. Nun fühlt sich diese Platzierung und der Titel nach Berechnung und Verkaufszahlen an, ebenso wie der reißerische Text, der auf den Einband gedruckt wurde - und diese Gefühle kommen bei mir vor einem Katastrophen-Hintergrund alles andere als gut an.

Um die Frage im Titel zu beantworten, "Wo warst du": Zu Hause, halb im Garten, halb vorm Fernseh, aber ein Buch schreibe ich nicht gleich darüber.