Rezension

Es sollte ein schöner Tag werden…

Wo warst Du? - Anja Reich, Alexander Osang

Wo warst du?
von Anja Reich Alexander Osang

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Es soll ein schöner Tag werden, sagt die Wetterseite der Times, nicht mehr so schwül wie gestern, 79 Degree Fahrenheit und sonnig. Die Küche ist bereits in dieses wundervolle New Yorker Spätsommerlicht getaucht, klar und kühl und scharf wie ein Pfefferminzbonbon. Crisp, nennen sie das. Ein Skilicht, ein Winteralpenlicht.«

Alexander Osang, Spiegel-Korrespondent, lebt seinen Traum: Er wohnt und arbeitet in New York, in der Stadt, zu der es ihn schon immer hinzog. Anja Reich, seine Frau, ist eigentlich auch Journalistin, derzeit aber wegen der Betreuung der gemeinsamen Kinder meistens zuhause. Jeder weiß, was aus diesem schönen Tag wurde, aus diesem 11. September 2001. Dieses Buch erzählt, wie ein ganz normales Paar in New York diesen Tag erlebte.

 

Interessant ist schon die wechselnde Erzählperspektive. Alexander und Anja berichten immer abwechselnd, man folgt ihnen als Leser durch den Tag und erlebt mit, wie sich die Geschehnisse auf sie auswirkten, was sie mit ihnen als Paar machten.

 

Bereits zu Beginn des Tages nimmt man die Spannungen zwischen den Eheleuten wahr. Alexander ist eigentlich rundum glücklich, er liebt seinen Beruf und die Möglichkeit, ihn am Ort seiner Träume auszuüben. Und er liebt seine Familie, die immer da ist, wenn er von einer seiner vielen Reisen zurückkehrt. Anja fühlt sich im Grunde ebenfalls in New York wohl, liebt auch ihre Kinder, leidet aber unter ihrem erzwungenen Hausfrauendasein.

»Kerstin sagt, da ist ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen«, sage ich. »Ein kleines.«

Für Alexander ist klar: Da gibt es eine Geschichte, er ist Korrespondent und wird diese Geschichte erzählen. Von ihrem Haus in Brooklyn aus kann man nur eine Rauchwolke sehen, daher macht er sich auf nach Manhattan. Anja wäre so gerne mitgefahren, bleibt aber zuhause, hütet die Kinder und wartet auf Nachrichten von ihrem Mann. Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch keiner von ihnen, welche Katastrophe heraufzieht…

 

Wenn man heute die Geschichte liest, weiß man natürlich, was weiter geschah. Man fiebert mit, wenn Alex – ganz Journalist – sich durch Absperrungen hindurchkämpft, um möglichst nah ans World Trade Center heranzukommen. Und ist dabei, wenn Alex und Anja erleben, wie sich dieser Tag verändert. 

»Vor unserem Haus ist es dunkel geworden. Die Sonne scheint nicht mehr. Der Himmel ist nicht mehr blau.«

 

Was machen die Geschehnisse mit den beiden? Alex muss nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern denkt auch über das nach, was er eigentlich tut, stellt erstmals sein Handeln in Frage. Und Anja sorgt sich nicht nur um Alex, sie macht ihm auch Vorwürfe… 

»Warum ist er so? Warum muss er immer weiter? Warum ist er nicht auf der Brooklyn-Bridge umgekehrt, als der erste Turm zusammenbrach, zurück nach Park Slope, zu uns? Warum ist ihm die Geschichte wichtiger als seine Familie, als sein Leben?«

 

Der 11. September wurde in vielen Berichten verarbeitet, jeder hat zahlreiche Reportagen darüber gesehen oder gelesen. Man kennt die Bilder und wer diesen Tag schon bewusst erlebt hat, kann vermutlich genau erzählen, wie er das genau getan hat. Dieses Buch legt seinen Schwerpunkt nicht auf die Geschehnisse am Ground Zero, sondern es geht rein in den ganz normalen Alltag einer Familie. Wer an das Buch mit dem Gedanken herantritt, von der ersten bis zur letzten Seite von Tod, Zerstörung und Überlebenskampf zu lesen, wird enttäuscht werden. Hier geht es auch um ganz banale Dinge, um die vielen Kleinigkeiten, die eine Beziehung belasten können und das alltägliche Leben ausmachen. Ich fand gerade das besonders beeindruckend, da es mir die Protagonisten unheimlich nah brachte, mir noch mal zeigte, wie gänzlich unerwartet eine Katastrophe ins Leben eintreten kann. Hinzu kam noch ein Suspense-Effekt, wie man ihn aus Hitchcock-Filmen kennt: Man weiß schließlich als Leser, was passieren wird. Und mit diesem Wissen sieht man den Charakteren dabei zu, wenn sie ahnungslos ihren Alltag leben. Ich fand das hoch spannend!

 

Fazit: Die Geschichte eines ganz normalen Tages, an einem Dienstag in New York, der plötzlich gar kein normaler Tag mehr war.

 

»Another beautiful day in New York City«, sage ich, als ich mit meinen Kindern aus dem Haus trete. Wieder so ein schöner Tag.«