Rezension

Berlin, Caracas, New York...

Hertzmann's Coffee - Vanessa F. Fogel

Hertzmann's Coffee
von Vanessa F. Fogel

Bewertet mit 4 Sternen

Ein altes jüdisches Ehepaar in New York. Yankele Hertzmann hat mit Kaffee gehandelt und ein Imperium errichtet, seine Frau Dora ist mit ihm lebenslang durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Jetzt ist es an der Zeit, die Firma an die Kinder zu übergeben. Doch es kommt zum Eklat, zum Streit um das Erbe. Plötzlich tun sich Brüche und Abgründe in der Familie auf. Über die Vergangenheit wurde nie gesprochen; »happy families don’t have a history« – das ist Doras und Yankeles Credo, daran haben sie sich zeit ihres langen Lebens gehalten, so hat es auch immer gut funktioniert, dieses Leben. Doch der Bruch mit den Kindern setzt etwas frei in Hertzmann. Er hat von youtube gehört. Von persönlichen Filmen im Internet. Er fasst einen Entschluss. Nachts setzt er sich, allein in seinem Studio, vor eine Videokamera – und erzählt.

Dieser Roman spannt weite Bögen - geografische ebenso wie zeitliche und thematische. Zwischen Berlin, Caracas und New York erzählt Vanessa F. Fogel Geschehnisse aus der Zeit Hitlers bis heute und kreist dabei rund um das Thema 'Familie'. Das Überleben des Holocaust und danach ist dabei ebenso Gegenstand der Erzälung wie die Konflikte zwischen den Generationen und zwischen Geschwistern. Und die Familie ist dabei das Konstrukt, das alles zusammenhält, das allem eine Bedeutung verleiht.

"Ich habe nie an Geister geglaubt", sagte sie, "bevor ich mit dir und deiner Mutter zusammen war." Damals wusste ich nicht, wie sie das meinte, aber heute weiß ich es. Mit uns zusammen zu sein hieß, mit den Geistern unserer Verstorbenen zusammen zu sein, mit den Geistern unseres vergangenen Selbst, jener Version von uns, die wir einzig und allein im Familienkreis sind. (S. 65)

Die Geschichte beginnt in New York, an einem 1. April. Anlässlich der Geburtstagsfeier Doras kommt die Familie Hertzmann an diesem Tag zusammen - und wird von einer Mitteilung Yankeles überrollt. Er, der mittlerweile bereits über achzig Jahre alt die Geschäftsführung des Kaffeeimperiums schon vor Jahren aufgegeben und in die Hände seiner Kinder Jasmin und Leonard gelegt hat, bestimmt nun, dass künftig der jüngste seiner Söhne diese Aufgabe übernehmen wird. Ausgerechnet Eliot, der nie aufgehört hat, nach sich selbst zu suchen, und dabei nach und nach ein paar Coffeeshops in Amsterdam übernommen hat, soll nun die Geschäfte von 'Hertzmann's Coffee' leiten? Die Aufregung ist groß, man geht im Streit auseinander - und die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die Firma, der Augapfel Yankeles, über diesen Streitigkeiten zerschlagen wird.

Keine einfache Situation - und weil er jetzt nachts sowieso nicht mehr schlafen kann, verlegt sich Jankele in den schlaflosen Stunden aufs Filmen. Er hat etwas erfahren von einem Begriff namens "YouTube", wo er wohl in einer Art privatem Fenersehkanal sein eigenes Programm gestalten kann. Und er gestaltet. Und redet sich von der Seele, was seit Jahrzehnten ungesagt blieb.

Ich sagte zuerst nichts, denn ich wollte das Versprechen, das wir einander gegeben hatten, nicht brechen. So heilig wie ein Ehegelübde war auch das Versprechen, die Vergangenheit nicht mehr zu erwähnen, zu atmen, zu leben. Wir wollten keine Opfer mehr sein. (S. 241)

Die Vergangenheit gehört doch zum Leben dazu, das ist es, was Yankele spürt. Eine Familie sollte davon erfahren, denn sonst sind es nur halbe Wurzeln, auf denen sich ein Leben errichtet. Und auch wenn Dora und er sich nach dem Krieg geschworen haben, niemandem von ihren Erlebnissen als Juden im Nazideutschland zu erzählen - nun weiß Yankele, dass er dies nachholen muss. Und so beginnt er, dem blinkenden Kameraauge seine Vergangenheit zu offenbaren. Für sich. Für seine Kinder. Und für seine kleine Schwester. Der einzig anderen Überlebenden seiner Familie. Die sich aber nicht erinnert, nicht erinnern will - und seit Jahrzehnten jeden Kontakt mit ihrem Bruder meidet. Doch nun, am Ende seines Lebens, startet Yankele einen letzten Versuch, seine Schwester und seine Kinder zu erreichen...

Verwirrend sind die Sprünge in der Erzählung, wenn zwischen Berlin, Caracas und New York gependelt wird. Da alles aus einer Ich-Perspektive heraus erzählt wird, weiß der Leser vor allem im ersten Drittel des Buches oftmals nicht, wer da gerade im Zentrum des Geschehens steht. Erst allmählich ist zu erkennen, dass alle Erzählstränge zur Geschichte der Familie Hertzmann gehören und sich allmählich einander annähern.
In New York lebt Yankele mit seiner Frau, mit der ihn immer noch eine große Liebe verbindet, und neben den Geschichten um seine Familie in Gegenwart und Vergangenheit erfährt der Leser auch einiges über das Geschäft mit dem Kaffee, und manchesmal vermeint man den Duft einer ganz besonderen Kaffeeröstung wahrzunehmen. In Berlin lebt der älteste Sohn Yankeles - er war seinerzeit nicht mit nach New York gegangen, sondern blieb in der Stadt seiner Kindheit und gründete dort schließlich eine eigene Familie. Hier erfährt man einiges über Yankeles Enkel Marc, der sich gerade in einer schwierigen Pubertät befindet und verzweifelt nach Anerkennung sucht. Und in Caracas trifft der Leser auf José-Rafael, den Sohn von Yankeles kleiner Schwester - auch er mit einer eigenen Geschichte, letztlich verbunden mit einer Vergangenheit, von der er nichts ahnt.

So überlebte ich am Anfang. Aber nach einer Weile wollte ich mehr. Ich dachte an die Zukunft und wünschte mir, meinen Kindern eines Tages alles geben zu können, was sie brauchten und sich erhofften. Und auch das, wovon sie nicht einmal träumten, auch das wollte ich ihnen geben. Ich erinnere mich, wie ich dachte, dass mit Wohlstand auch Freiheit kommt, Unabhängigkeit, weniger Leid und bessere Überlebenschancen. Das mit ihm Leben kommt. Leben. (S. 129)

Während in dieser Familiengeschichte die Hauptpersonen allmählich ein klareres Gesicht erhalten, sich aus dem Nichts herausschälen und dem Leser immer deutlicher vor Augen treten, bleiben die Nebenfiguren wie Yankeles Kinder erstaunlich blass. Oftmals klischeebehaftet, war es nicht spannend, ihnen zu begegnen, sie spielten im Grunde auch keine wesentliche Rolle - was angesichts der großen Bedeutung der Familie für Yankele etwas schade ist. Und eine so überaus liebevolle Ehe wie die zwischen Yankele und Dora auch noch nach Jahrzehnten ist zwar wünschenswert, wirkt aber doch manchmal zu sehr wie mit Zuckerguss überzogen.
Meist flüssig zu lesen, an manchen Stellen etwas holperig, wartet das Buch auch mit durchaus poetisch anmutenden Passagen auf. Insgesamt hätte ich mir die Geschichte noch ein wenig mehr ausgeführt gewünscht, das Potential hätte sie gehabt. Aber letztlich war es auch so eine lesenswerte Familiengeschichte mit einem Plädoyer für die Familie und gegen das Vergessen.

© Parden