Rezension

Berlin in den 20er, 30er und Anfang der 60er Jahre

Wir sehen uns unter den Linden - Charlotte Roth

Wir sehen uns unter den Linden
von Charlotte Roth

Berlin in den 20er Jahren - Berlin bis zum Mauerbau - Naziherrschaft - Familiengeschichte - Widerstand - Mauerbau - Berlin als geteilte Stadt - eine Liebe zwischen Ost und West

Susanne ist 16 Jahre alt, als ihr Vater vor ihren Augen von der Gestapo erschossen wird. Dies prägt fürs Leben. 

Ihr Vater hatte leidenschaftlich für den Sozialismus gekämpft - und so stürzt sich Susanne nach dem Krieg mit Leidenschaft in den Aufbau der DDR. Die Zeit der Denunziation und der blinden Gefolgschaft aus der NS-Zeit sollen im neuen Staat endgültig vorbei sein. Aber - von Susanne weitgehend unbemerkt - schleichen sich mit der Stasi ähnliche Methoden ein. Dazu kommt, dass die Mitbürger mehr Leidenschaft für den westlichen Konsum zeigen als für den Aufbau eines neuen Staates. Und dann lernt Susanne noch einen Koch aus dem Westen kennen, der sich unsterblich in sie verliebt. Und sie treffen sich jede Woche Unter den Linden. Damals, als der Grenzübergang zwischen Ost und West noch problemlos möglich war. Aber am Ende des Buches (nicht, wie im Klappentext angedeutet am Anfang des Buches) steht der Mauerbau...

Erzählt wird außerdem noch die Geschichte von Susannes Eltern, die sich in den Wilden 20er Jahren in Berlin kennen- und liebenlernen. Und die Geschichte von  Hiltrud, der Schwester des Vaters. Und dann gibt es da noch Eugen, einen zunächst mäßig erfolgreichen Filmemacher, der noch eine große Rolle spielen will. Und eine jüdische Schauspielerin. Es gibt also eine Fülle von Hauptfiguren, auch ein behinderter Mensch ist dabei, es werden also alle Betroffenen des Nazi-Regimes dargestellt. Eine Identifikation mit den Protagonisten fiel mir allerdings teilweise schwer. Manches empfand ich als überzeichnet, so wie die Mutter, die sich nach dem Tod des Vaters dem Leben entzieht und erst gar nicht mehr isst - und sich dann jahrelang vollfrisst, um daran zu sterben. Und Susanne, die Hauptperson, konnte auch keine übermäßigen Sympathien bei mir erwecken. Zu freudlos und engstirnig erschien mir ihr Kampf für einen sozialistischen Staat. Und die Liebesbeziehung zu dem westdeutschen Koch - die konnte ich irgendwie auch nicht nachvollziehen. Gut gefallen hat mir an den Protagonisten, dass sie nicht ausschließlich schwarz-weiß gezeichnet werden, sondern jeder hat verschiedene Facetten und es gibt immer Gründe für das (manchmal befremdliche) Verhalten.

Erzählt wird abwechselnd und in mehreren Zeitebenen: Die 20er Jahre, die 30er Jahre, die Kriegsjahre und die Zeit nach dem Weltkrieg, Dies macht die Lektüre abwechslungsreich - aber manchmal auch kompliziert. Eigentlich mag ich dieses Erzählen in mehreren Zeitebenen - und die Autorin Charlotte Roth kann dies normalerweise sehr gut - aber hier wirkte es manchmal ziemlich beliebig zusammengewürfelt. Schade.

Interessant war für mich an dem Buch vor allem die Sichtweise der überzeugten DDR-Bürger, die mit viel Elan versuchten, einen gerechten Staat aufzubauen. Und an ihren Mitmenschen verzweifeln, denen soziale Gleichberechtigung komplett egal ist - wenn es genügend zu konsumieren ist. Und daran ist die DDR im Endeffekt ja auch gescheitert - die bunte Welt des Westens war einfach zu verlockend.

Ich lese sehr gerne die Romane von Charlotte Roth, weil sie Zeitgeschichte lebendig werden lassen. Auch dieses Buch habe ich gerne gelesen. Aber an "Als wir unsterblich waren" und an "Wenn wir wieder leben" kommt das Buch dann doch nicht heran. Aber das sind auch hohe Meßlatten.