Rezension

Bleibt unter den Erwartungen

Henry -

Henry
von Florian Gottschick

Die zwölfjährige Hauptfigur Henriette, genannt Henry, ist ein ungewöhnliches, willensstarkes Mädchen aus Berlin-Wilmersdorf. Diese Beschreibung ließ mich auf eine spannende, dramatische Story hoffen, aber am Ende kommt es stattdessen zu einem versöhnlichen und arg braven Happy End für alle beteiligten Figuren, die mitunter doch arg holzschnittartig daherkommen.
Dass Henry mit ihren Eltern in Wilmersdorf wohnt, soll wohl ein allzu deutlicher Hinweis darauf sein, dass sie aus dem wohlhabenden Westen Berlins kommt; ihre zur Überbehütung neigenden Eltern bzw. die Mutter fahren einen nagelneuen BMW. Geld ist also da und selbstverständlich besitzt die Familie ein wunderschönes, renoviertes Landhaus außerhalb Berlins, in dem sie ihre Wochenenden verbringen. Noch mehr Klischees gefällig?
Beladen mit Einkäufen will die Mutter Marion, mit Henry in Berlin wieder angekommen, abends vor ihrer Wohnung im strömenden Regen, zunächst die schweren Lebensmitteltaschen nach oben bringen, und lässt die schlafende Tochter im Auto an der Straße zurück. Kurze Zeit später: Es ist kaum zu glauben, aber tatsächlich versucht ein junger Mann im Kapuzenpulli, das Auto zu kapern. Marion rennt und schreit los, zu spät, der Mann fährt los, ohne zu wissen, was oder wer sich noch auf dem Rücksitz befindet. Der Beginn einer ungewöhnlichen Entführung aus Versehen.
Sven, der Autodieb, ist ein junger und gutaussehender, aber zielloser und instabiler Mann. Er hat zuvor seine Freundin Nadja und seinen Job verloren. Total erschrocken, will er Henry am besten an der nächsten Stelle aus dem Auto rauslassen, doch Henry, erstaunlicherweise völlig ohne Angst, überredet ihn, in ein gemeinsames Abenteuer zu starten. Dabei sammeln sie noch die Ex-Freundin Nadja auf, die selbstverständlich wie Sven nicht aus dem hippen Westteil der Stadt kommt, sondern aus dem Osten, wo Frauen sich gerne mal rosa Strähnen in die Haare und Strasssteinchen auf ihre Fingernägel machen lassen. Nun ja.
Zwischen den drei Protagonisten entwickelt sich eine enge Verbundenheit durch gemeinsame Abenteuer, etwa bei den man auf Kürbisse schießt oder bei der ersten, wilden Autofahrt der völlig unerfahrenen zwölfjährigen Henry ein Reh über den Haufen fährt, das, noch lebend am Straßenrand mit einem Gewehr von Henry erschossen wird. Das scheint keine großen Schuldgefühle auszulösen. „Bambi“ wird erschossen und vergraben. Lebe deine Träume und werde erwachsen. Nun ja.
Das Ende des Romans will ich natürlich nicht verraten, aber es ist einfach ein weiteres klischeehaftes Bild einer zu schönen als wahren Familiengeschichte.