Rezension

Cuthbert und die Kathedrale von Durham durch die Jahrhunderte - Geschichte von unten erzählt

Cuddy – Echo der Zeit -

Cuddy – Echo der Zeit
von Benjamin Myers

Bewertet mit 4 Sternen

Cuthbert von Lindisfarne (635- 687) war u. a. Prior in Lindisfarne (664–676) und Eremit auf Inner Farne (676–684), ihm werden zahlreiche Wunder zugeschrieben.

Mit Cuthbert/Cuddy und der Kathedrale von Durham befasst sich Benjamin Myers in vier Texten aus vier Epochen, die an unterschiedlichen Orten Nordenglands spielen und an verschiedenen realen Orten verfasst wurden. Neben mehreren Icherzählern erhält auch die Kathedrale eine Stimme. Der erste Teil vermittelt in zahlreichen Zitaten Cuthberts Biografie und beispielhaft die Entstehung des Kults um seinen Leichnam, der angeblich unverwest exhumiert werden konnte. Mit Ediva lernen wir eine sehr junge heilkundige Frau aus dem Haliwerfolc kennen (Anhängern, die Cuthbert huldigten und seinem Leichnam folgten). Sie könnte bei einem Wikingerüberfall geraubt worden und als Sklavin zu der Gruppe von 7 Mönchen gelangt sein, in der sie kocht, die Zipperlein der Pilger pflegt und als Icherzählerin ihre kleine Welt erfrischend nüchtern beurteilt.

Eda, eine weitere Icherzählerin, berichtet aus dem 14. Jahrhundert über ihre Ehe mit dem gewalttätigen Bogenschützen Fletcher, der mit seinem Besitz Ehefrau nach Lust und Laune verfährt. Die Spuren seiner Übergriffe sind nicht zu übersehen, es wird darüber getratscht, aber nur eine Person ist bereit zu handeln. Eda nennt ihren Sohn Cuthbert. Indem sie die Steinmetze mit ihrem selbst gebrauten Ale versorgt, steht sie in Verbindung mit weiteren Icherzählern, deren Schicksale ebenfalls mit Cuthbert und der Kathedrale verknüpft sind.

Im 19. Jahrhundert wird der Altertumsforscher Professor Fawcett-Black als neutraler Zeuge zur Exhumierung von Cuthberts Leichnam hinzugezogen, der sich bis dahin kaum für die Geschichte Nordenglands interessiert hatte. Heute weiß man, dass diese Exhumierung maximalen Schaden anrichtete und schnell vertuscht wurde. Wie andere vor ihm hört Fawcett Stimmen raunen, die bei einem rationalen Menschen wie ihm verwundern und seinen bevorstehenden Zusammenbruch ankündigen könnten.

Michael Cuthbert in der unmittelbaren Gegenwart könnte ein Nachkomme Cuthberts sein. Er arbeitet als Tagelöhner oder für eine Zeitarbeitsfirma als Bauhelfer und verdient, schwarz, bar auf die Hand und weit unter Mindestlohn kaum genug, um damit die Einkäufe für sich und seine pflegebedürftige Mutter zu bezahlen. Als Michael den Steinmetzen Tee und Lunch auf den Turm der Kathedrale tragen soll, erhält er diese Aufgabe, weil er respektvoll genug wirkt gegenüber der Kathedrale, der Religion und den auch in diesem Jahrhundert angesehenen Steinmetzen. Bei der Begegnung mit Evie, die die Verpflegung der Handwerker zusammenstellt, werden Welten deutlich, die die Studentin und den Hilfsarbeiter trennen: Michael war noch nie auf dem Turm der Kathedrale; denn wer würde Eintrittsgeld dafür zahlen, wenn alle paar Tage die Guthabenkarte für Strom gefüllt werden muss.

Fazit
In seinem Mosaik verschiedener Textarten richtet Benjamin Myers den Blick auf den Cuthbert-Kult, einen Kathedralenbau an besonderer Stelle, zeigt als „Geschichte von unten erzählt“ ausführlich Gewalt in der Ehe, sexuelle Gewalt an Abhängigen durch Kleriker und die Lebenssituation eines modernen Tagelöhners. Neben der Regionalgeschichte hat mich hier die Frage berührt, wie wir Geschichte weitergeben und ob man Geschichte je ruhen lassen kann.