Rezension

Das Buch ermutigt uns, das zu tun, wonach wir uns sehnen

Seesucht -

Seesucht
von Marlies van der Wel

Ein Mann, der ein Lebensziel hat: Endlich mit dem Meer, seinem Sehnsuchtsort, eins werden. "Seesucht" ist ein farbenfrohes, außergewöhnliches Kinderbuch – eine Rezension von Johannes Streb.

Die Sehnsucht ist ein schmerzhaftes Ziehen, ein Signal vom Kopf an den Körper, das etwas nicht stimmt. Etwas, jemand fehlt. Die Erinnerungen an das Vermisste gehen tief, schneiden eine klaffende Wunde in unsere Seele, was uns ausmacht. Wir möchten etwas spüren, was wir nicht spüren können; etwas sehen, was weit entfernt ist; mit jemandem lachen, der sich verabschiedet hat. 
Von diesem Gefühl kommen wir nicht los; es steckt ja schon im Wort, es ist wie eine Sucht. Keine andere Emotion ist so ehrlich wie die Sehnsucht. Sie zeigt unmissverständlich, was der Mensch in diesem Moment und für alle Zeit ist: unvollständig – ein zentraler Aspekt in »Seesucht«. 

Sehnsucht als zentraler Aspekt
Der niederländische Kurzfilm »Jonas und das Meer« erzählt eine solche Sehnsuchtsgeschichte. Im zarten Alter von zwei Jahren sieht er zum ersten Mal das Meer: seine friedlichen Wellen, der salzige Wind an der Nase, die freundliche Unterwasserwelt mit den Scharen von farbenfrohen Tieren. Ab diesem Moment möchte er nichts anderes als: Eins werden mit dem Wasser.
Dieser Wunsch ist ein starker Ausgangspunkt für ein Kinderbuch. Jedes Kind hat etwas, das ihn fasziniert, magisch anzieht und individuell macht. Schon früh ist Jonas klar, welches Ziel ihn sein Leben verfolgen wird, welches Anliegen er unter keinen Umständen aufgeben wird; komme, was wolle. 
Diese »Seesucht«, wie der Titel es so treffend beschreibt, ist stellvertretend für kindliche Naivität, Neugierde und den Drang, Neues zu entdecken. Für die jungen Leser:innen kann Jonas wie eine Projektion der eigenen Leidenschaften wirken.

"Seesucht" ermutigt uns, das zu tun, wonach wir uns sehnen
Dieses unschuldige und aufrichtige Anliegen steht im starken Kontrast zu der restlichen Welt: Fischern, die ihn als Träumer abstempeln, auslachen und nicht an seinen Erfolg glauben; das Wasser, das von Jahr zu Jahr immer höher steigt und die Zivilisation, die dafür verantwortlich ist, unter sich begräbt. 
Das Bilderbuch »Seesucht» ermutigt sein Publikum, an das zu glauben, was dich als Menschen ausmacht – unabhängig davon, was das Umfeld davon denkt. Es ist unser gutes Recht und ein Stück weit unsere Pflicht, uns im eigenen Tun selbst zu verwirklichen.

Bilder erzählen die Geschichte in "Seesucht"
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte anhand der farbprächtigsten Bilder des zwölfminütigen Kurzfilms »Jonas und das Meer» aus dem Jahr 2015. Dieser wurde von der niederländischen Illustratorin Marlies van der Wel animiert und bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 
Aufgrund des hochwertigen Farbdrucks kann das Lesepublikum in den vollen Genuss der liebevoll gestalteten Bilder kommen – denn sie erzählen, nicht die Worte.

Einzelne Motive tragen die Geschichte wunderbar
Die Faszination für das Meer; der Eifer, das Ziel zu erreichen; der fehlende Glaube in seine Fähigkeiten – all das sind Motive, die durch die Geschichte wunderbar getragen werden und eine große Identifikationsfläche bieten. Man merkt förmlich, wie viel Liebe und Arbeit hinter diesem Projekt stecken. Und das macht es zu einem wirklich spannenden Abenteuer für alle Sinne.
Allen Leser*innen empfehle ich an dieser Stelle, beide Ausgaben der Geschichte auf sich wirken zu lassen. Der vollständige Animationsfilm ist im Internet verfügbar. Die Musik unterstreicht die emotionale Ebene des Protagonisten ziemlich gut. Insgesamt bietet er eine etwas umfassendere Handlung und eine unterschiedliche Erzählstruktur, als es im Bildband der Fall ist.

Fazit
Das Buch »Seesucht« erzählt eine bewegende und abenteuerliche Reise eines Sehnsüchtigen – erzählt in pompösen und farbenreichen Bildern.

4,5 Sterne