Rezension

„Das Fastenmädchen“

Das Wunder - Emma Donoghue

Das Wunder
von Emma Donoghue

Bewertet mit 5 Sternen

Eine beklemmende Geschichte über Täuschung, unterlassene Hilfe, über Glaube und Aberglaube in einer bigotten Zeit.

Wir befinden uns in Irland in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo die katholische Bevölkerung noch tief gläubig ist. Die englische  Krankenschwester Lib (Elizabeth) Wright ist auf dem Weg nach Athlone, einem Dorf, in dem sich angeblich ein Wunder ereignet. Die elfjährige Anna O’Donnell soll seit dem Tag ihrer Firmung vor vier Monaten keine Nahrung mehr zu sich genommen haben, mit Gottes Hilfe aber immer noch gesund und munter sein. Zusammen mit einer Nonne hat Lib den Auftrag, das Mädchen zwei Wochen lang zu überwachen und danach einem Komitee Bericht zu erstatten. Als sie aber nach einigen Tagen die Bewachung abbrechen will, da sie nicht länger zusehen kann, wie sich ein kleines Mädchen unter den Augen des Priesters, des Arztes und der bigotten Eltern zu Tode hungert, findet sie nirgendwo Gehör. Doch dann bekommt sie unverhofft Hilfe von William Byrne, einem ebenfalls angereisten Journalisten …

„Das Wunder“ (2016 The Wonder) ist der neunte Roman der kanadischen Schriftstellerin irischer Herkunft Emma Donoghue. Sie wurde 1969 in Dublin geboren, verlegte nach ihrem Studium in Dublin und Cambridge ihren Wohnsitz 1998 nach Kanada. 2004 erwarb sie die kanadische Staatsangehörigkeit und wohnt heute mit ihrer Lebensgefährtin und ihren Kindern in London/Ontario.

Wie die Autorin in einem Nachwort erwähnt ist die Geschichte frei erfunden, wirkte jedoch auf mich beim Lesen sehr realistisch. Die damalige Zeit in Irland, die nach der großen Hungersnot noch immer vom Elend geprägt war und in der sich Glaube, Aberglaube und religiöser Wahn ausbreiten konnte, ist ausgezeichnet beschrieben und sehr  anschaulich geschildert. Unvorhersehbare Wendungen verleihen dem manchmal beunruhigend realen Geschehen seine Spannung und lassen den Leser seine eigenen Vermutungen anstellen. Warum verweigert Anna die Nahrung? Täuscht sie vielleicht ihre Umgebung? Steckt ihr jemand heimlich Essen zu? Wird das Mädchen vom Arzt oder gar vom Priester beeinflusst? Oder ist es vielleicht doch ein Wunder?  

Die einzelnen Charaktere sind sehr lebensecht dargestellt, besonders die Beziehung zwischen Lib und Anna ist berührend in ihrer allmählichen Entwicklung. Anfangs bezeichnet die Krankenschwester das Kind noch als Betrügerin, doch nach und nach wächst Anna ihr immer mehr ans Herz und sie sorgt sich um ihr Wohlergehen. Es machen sich auch andere Emotionen breit, besonders Hass auf die gleichgültige Mutter und Ärger auf die Umgebung des Kindes, die sich offenbar keiner Schuld bewusst sind. Man ist als Leser ganz bei Lib und ihren Gefühlen und hofft ständig, dass sich alles noch zum Guten wenden wird. Sprachlich ist das Buch ganz dem Geschehen angepasst, anfangs ist der Schreibstil noch recht nüchtern, mit Fortschreiten der Geschichte wird er mehr und mehr emotional.

Fazit: Ein außergewöhnliches Thema ist hier mitreißend und spannend umgesetzt worden. Schwer verdaulich, dennoch kann ich das Buch wärmstens empfehlen!