Rezension

"Das Laufen von 10 000 Li ist besser als das Lesen von 10 000 Büchern"

The Longest Way - Christoph Rehage

The Longest Way
von Christoph Rehage

Bewertet mit 5 Sternen

Als Christoph Rehage 2007 in Peking die junge Chinesin Juli kennenlernt, treffen zwei temperamentvolle Persönlichkeiten aufeinander. Mit Rehage geht gern einmal das ungarische Temperament seiner Mutter durch; Juli stammt aus Sichuan, wo die Frauen ebenso feurig sein sollen wie das Essen. Für den Beginn einer Beziehung ist es genau der falsche Moment; denn Rehage hat die Regeln für seine geplante Wanderung von Peking ins niedersächsische Bad Nenndorf bereits festgelegt: ohne Tricks die gesamte Strecke zu Fuß gehen, keinen Alkohol und jeden Tag das Erlebte bloggen. Über die Tour, die "Leike" (chinesisch Eroberer des Donners) dann doch in Ürümqi abbrach, gibt es bereits den Bildband "China zu Fuß". Wer den Bildband kennt, hat dort die wichtigen Wandergefährten Rehages kennengelernt, Onkel Shen, der nach seiner Pensionierung eine Radtour durch China unternimmt und Lehrer Xie, seit 25 Jahren mit einer Art Schäferkarren unterwegs. Im Reisebericht kommt noch Zhu Hui dazu, der selbst aus Ürümqi stammt. Noch in den ersten Tagen sagt Rehage ein Tempelorakel voraus "Du wirst deine Ziele erreichen, deine Geschäfte werden von Erfolg gekrönt sein, und deine Nachkommen werden einen Universitätsabschluss haben." Wenn davon nur Vater Rehage in Deutschland und Juli zu überzeugen wären, die inzwischen in München studiert. Rehage hat Sinologie studiert und in Peking eine Ausbildung als Kameramann absolviert. Der hochgewachsene Deutsche mit der wuchernden Haar- und Bartpracht bringt optimale Voraussetzungen für seine Unternehmung mit: er spricht Chinesisch, hat im Studium chinesische Geschichte gelernt und sieht den Alltag seines Gastlandes mit dem Blick des Fotografen. Auf seiner Tour wird Rehage immer wieder von Privatleuten aufgenommen, weil es in den kleinen Orten kein Gasthaus und erst recht kein Hotel gibt. Er übernachtet in Arbeiterwohnheimen, in einer Lößhöhle und immer wieder im Zelt. Die Fürsorglichkeit und Anteilnahme der Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch Rehages Erlebnisse. "Nimm die Medikamente gegen deine Erkältung, am besten nimmst du die chinesische und die westliche Medizin immer abwechselnd," rät der Mann am Kiosk. Ein Vater schickt seinen Sohn, um Rehage auf einer Tagesstrecke zu begleiten, damit der Junge mit dem Fremden sein Englisch übt. Rehage kämpft gegen lädierte Füße, gegen seine Schüchternheit und hin und wieder mit Ausbrüchen seines ungarischen Temperaments. Doch schließlich muss er sich den Sandstürmen der Wüste Gobi stellen und sich entscheiden, was aus ihm und Juli werden soll. Der Abschnitt seiner Tour, der Rehage in den Westen Chinas führt, hat mich am stärksten beeindruckt.

Obwohl ich den Bildband China zu Fuß: The Longest Way schon kannte, habe ich den Reisebericht verschlungen - ein handwerklich vorbildlich gestaltetes Buch mit Lesebändchen und in solider Papierqualität.

Textauszug
"Doch als wir bei der Post ankommen und ich meine Briefe abgebe, wird einer unter großem Gestaune unter den Beamten herumgereicht. Es ist derjenige, den ich an Meister Yan schicken möchte, und es geht anscheinend um den Umschlag. "Wer hat das geschrieben?" fragt einer von ihnen und zeigt mit dem Finger auf die Adresse, die ich auf den Umschlag geklebt habe. "Die Adresse? Die hat Meister Yan selbst geschrieben", antworte ich, "ich habe sie nur aufgeklebt. Ist etwas nicht in Ordnung?" Der Postbeamte lacht: "Ist dir die wundervolle Kalligrafie nicht aufgefallen?" Ich muss lächeln. Vor meinem inneren Auge kann ich Meister Yan sehen, wie er in seiner Höhlenwohnung über den Tisch gebeugt steht und mit schwungvollen, entschlossenen Zügen seine Adresse für mich in einen Notizblock schreibt. Und hier, Wochen später, in einem grauen, staubigen Postamt Hunderte Kilometer entfernt, hier freuen sich die Leute darüber, was für schöne Zeichen er schreibt. "China ist wunderbar!" sage ich und drehe mich [...] um. (S.185)