Rezension

Das skurille Leben nach dem Tode

Nr. 799 - Yuna Stern

Nr. 799
von Yuna Stern

Pro:
Das Cover springt ins Auge, und der Kontrast zwischen dem verträumten Mädchengesicht und der nüchternen, sterilen Zahl macht neugierig auf die Geschichte, die dahinter steht. Und die ist definitiv keine 08/15-Geschichte, die man in Variationen schon hundertmal gelesen hat!

Hannah - denn so hieß Nr. 799 vor ihrem verfrühten Tod -, findet sich weder im Himmel noch in der Hölle wieder, sondern an einem seltsamen, fremdartigen, befremdlichen Ort. Wie eine verwirrte und oft sture und rebellische Alice läuft sie durch ein steriles Wunderland voller absurder Charaktere. Ihr wird gesagt, sie sei etwas Besonderes, sie sei dazu ausersehen, die Seelen der Toten ins Licht zu bringen... Das klingt ja erstmal wie etwas Wunderbares, aber in der Anstalt stimmt etwas nicht, das spürt Hannah einfach. Viele der anderen Schüler sind apathisch und teilnahmslos, und wer sich an zuviel aus seinem früheren Leben erinnert, gilt als krank und muss "geheilt" werden...
Für Originalität gibt es definitiv die volle Punktzahl, und die Geschichte bietet auch viel Potential für Fragen nach dem Sinn des Lebens. Leider hat mich die Umsetzung nicht überzeugt. (s. "Kontra")

Der Schreibstil ist allerdings ansprechend, bildreich und flüssig zu lesen, und er vermittelt gut die (alb)traumhafte Atmosphäre, die in diesem Buch vorherrscht.

Kontra:
Die Geschichte war mir oft zu skurril, wie ein mal knallbunter, mal düsterer Tim-Burton-Film - aber für mich leider weniger unterhaltsam. Die Charaktere wirkten auf mich zum Teil einfach nicht echt, sondern mehr wie Karikaturen ihrer selbst. Zwar ist das sicher auch gewollt, um zu zeigen, wie die Anstalt die Menschen in eine bestimmte Form presst und ihre Persönlichkeiten verzerrt, aber trotzdem machte es mir das schwer, mit den Charakteren wirklich mitzufühlen.

Dabei bietet die Geschichte durchaus viel Potential für Spannung, die aber meiner Meinung nach oft in verwirrter Ratlosigkeit verpufft! Das Tempo krankt ebenfalls an verworrenen Handlungssträngen. Ich wollte zwar wissen, wie es mit Hannah weitergeht, aber ich habe dennoch viele Lesepausen eingelegt, weil das Buch mich nicht fesseln konnte.

Die Protagonistin kann einem Leid tun, aber irgendwie konnte sie mich nicht vollends für sich gewinnen. Ich konnte ihren Wunsch, mehr über ihr Leben zu erfahren und die unheimliche Anstalt zu verlassen, zwar nachvollziehen, aber ich bekam leider kein Gefühl dafür, wer sie im tiefsten Inneren wirklich ist. Am sympathischsten war sie mir in den Szenen, in denen sie sich um die verängstigte kleine Mia kümmert, die auch Insassin der Anstalt ist, aber die machen nur einen kleinen Teil des Buches aus.

Gestört hat mich auch, dass Hannah für die banalsten Dinge geradezu mit Lob überschüttet wird. So sagt sie zum Beispiel dem Arzt der Anstalt, dass ihr Psychologen noch nie geheuer waren, und er findet das so wahnsinnig amüsant, dass er ihr versichert, sie habe ihm den ganzen Tag gerettet. Direkt zwei Lehrer loben sie, nachdem sie eine relativ naheliegende Frage stellt, wie klug sie doch ist. Im Laufe des Buches errät sie auch mal gerade eben so eine sechsstellige Codenummer! Das kam mir einfach nicht glaubwürdig vor.

David blieb für mich sogar noch blasser. Rückblickend erinnere ich mich eigentlich nur daran, dass er ein gutaussehender Rebell ist, der gar nicht so rebellisch auftritt. Es gab relativ wenig Interaktion zwischen ihm und Hannah, und dabei war sie am Anfang eher unfreundlich und abweisend. So kam die Liebesgeschichte für mich etwas überraschend und wenig überzeugend.

Manches erschien mir nicht 100%ig plausibel und schlüssig, wie z.B. die Tatsache, dass die Insassen der Anstalt sich auf keinen Fall an ihr Leben erinnern sollen, aber andererseits direkt nach ihrem ersten Aufwachen in der Anstalt viel über ihr Leben erzählt bekommen. Warum? Bei einer Unterrichtsstunde bekommen sie ein umfangreiches Ritual gezeigt, das sie angeblich benötigen, um Seelen anzulocken - und später stellt sich dann heraus, dass das Ritual gar nicht nötig ist. Warum? Und auch die Erklärung, dass die Menschen in der Anstalt besonders sind, weil ihre Seelen nicht von den Magnetstrahlen der Erdatmosphäre festgehalten werden... Etwas seltsam!

Die endgültige Auflösung am Schluss hat mich wirklich ratlos zurückgelassen - ich bin mir nicht sicher, ob ich das Ganze verstanden habe, und ich frage mich, ob da vielleicht noch ein zweiter Teil kommt.

Zusammenfassung:
Eine tolle Idee, originelle Einfälle, ein guter Schreibstil, aber leider auch gravierende Schwächen, die das Buch für mich zu einem eher zähen Vergnügen gemacht haben.