Rezension

Demokratie ist die Lösung!

Die vulnerable Gesellschaft -

Die vulnerable Gesellschaft
von Frauke Rostalski

Bewertet mit 5 Sternen

Sehr gut formuliertes Essay über die Wertegesellschaft!

Die Rechtswissenschaftlerin Frauke Rostalski zeigt auf, wie eine immer mehr sensibel auf Vulnerabilität reagierende Gesellschaft dabei ist, die Grundlagen unserer Gesetzgebung zu verändern. Sie stellt den Grundsatz der Vulnerabilität (Verletzlichkeit) des Einzelnen oder einer Gruppe dem Grundsatz der individuellen Freiheit gegenüber. Schutzbedürfnis und Freiheitsverlangen stehen immer in einem Spannungsverhältnis, denn der Schutz des einen schränkt die Freiheit des anderen ein. Je mehr Vorschriften, desto weniger Freiheit/en. So einfach ist das.
Frauke Rostalski gibt zu bedenken, dass jede gesetzlich geregelte Schutzvorschrift die Eigenverantwortlichkeit der Bürger schwächt und zwar aller Bürger, nicht nur derjenigen, die direkt von der neuen Vorschrift betroffen wären, denn die Summe (aller neuer Schutzvorschriften) macht es letztlich aus, es wird immer mehr Verantwortung an den Staat abgegeben, der dadurch aber auch immer mehr an Autorität gewinnt. „Alle verlieren Freiheit, auch die Vulnerablen (Verletzlichen), sobald der Staat eingreift“. Sie zeigt dies alles wertneutral auf und macht lediglich darauf aufmerksam, dass und welche Probleme für die Demokratie entstehen.
Besonders besorgt muss man sein, wenn die Diskussion darüber, wohin sich die Wertegesellschaft entwickeln soll, dadurch behindert wird, dass schon der Diskurs per se als unangemessen, als Angriff oder als verletztend betrachtet wird (Diskursvulnerabilität). „Auch die Demokratie ist verletzlich. Und zwar insbesondere dann, wenn es um ihr Herzstück, den freien Diskurs geht“. Demokratie lebt vom Streiten, vom Austausch, vom gemeinsamen Aushandeln von Interessen und Demokratie ist nicht immer bequem.
Die Autorin spricht von Konformitätsdruck, der eine echte Auseinandersetzung verhindert, das heißt, eine gesamtgesellschaftliche, eine, in der alle Positionen gehört werden, auch die unbequemen, die konträren, die, die man persönlich vielleicht als unzumutbar empfindet. Gesamtgesellschaftlich muss dies ausgehalten werden. Resilienz ist erwünscht. Wer fordert, dass von vorneherein bestimmte unliebsame Meinungen oder Personen des runden Tisches verwiesen werden, verhält sich autoritär. „Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente (moralisch) verwerflich sind. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden.“ Das Wesen einer Demokratie ist anders. 

Das Leseeerlebnis: 
Frauke Rostalski formuliert glasklar. Keine Schachtelsätze. Man ist schnell auf Stand, was die neuesten Entwicklungen in punkto Gesetzgebung und Rechtsprechung betrifft. Der große Wert des Essays ist es, den Zusammenhang aufzuzeigen von berechtigten/unberechtigen Schutzinteressen und berechtigtem/unberechtigem Freiheitsausübungsanspruch. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt zu einem Ausgleich zwischen beiden, dieser Ausgleich muss aber in einem gesamtgesellschaflichen Diskurs ausgehandelt und ausdiskutiert werden, von dem keiner, der sprachmächtig ist, ausgeschlossen werden darf. Demokratie ist manchmal eine Zumutung und trotzdem die Lösung und nicht das Problem, weil keiner, auf das Ganze gesehen, benachteiligt wird, wenn alle gehört werden. Weil eine adäquate Interessensabwägung unter Einbeziehung aller langwierig und anstrengend sein kann (und wie gesagt, sogar ärgerlich), sagen nämlich manche, dass der demokratische Prozeß ein Hindernis sei, einge dringend anstehenden Probleme zu lösen, doch das ist ein Trugschluss. Noch einmal: Demokratie ist nicht das Problem, sondern die Lösung. 

Fazit: Es ist natürlich unbequem, Interessenskonflikte öffentlich und gemeinsam auszutragen, ohne jemandem das Wort zu verbieten. Doch in einer Demokratie muss man das aushalten. 

Kategorie: Sachbuch. Politik und Jurisprudenz
C.H. Beck, 2024
Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2024