Rezension

Der Sog von St. Kilda

Sehnsucht nach St. Kilda - Isabel Morland

Sehnsucht nach St. Kilda
von Isabel Morland

Bewertet mit 4 Sternen

Seit dem Tod ihres Ehemannes Josh lebt Rachel mit ihrem kleinen Sohn Sam allein in London und hält sich mit 3 Jobs gerade so über Wasser. Als Sam sich in der Schule verletzt, ist es um Rachels Selbstbeherrschung geschehen und sie nimmt nach langer Zeit Kontakt zu ihrer Großmutter Annie auf, die in Schottland lebt. Schon bald verlässt Rachel mit Sam London für ein Leben auf dem Land bei ihrer Großmutter. Die besorgt ihr auch noch einen Job, der Rachel als Aushilfsköchin allerdings auf die verlassenen Hebriden-Insel St. Kilda führt, sie muss Sam für vier Wochen bei Annie lassen. Kaum auf der Insel angekommen, spürt Rachel bereits den Zauber, den sie zunächst aber den alten Erzählungen ihrer Großmutter zuschreibt, die ihre Kindheit auf St. Kilda verbracht hat, bevor sie zusammen mit den anderen Inselbewohnern 1930 von dort evakuiert wurde. Rachel hat Sam versprochen, den von Annie und ihren Jugendfreund Finlay versteckten Schatz zu suchen. Dabei erhält sie Unterstützung von dem bekannten Fotografen Ailic, der nicht nur Bilder von St. Kilda machen soll, sondern selbst einige Schicksalsschläge zu verdauen hat. Wird Rachel Annies Schatz finden?

Isabel Morland hat mit „Sehnsucht nach St. Kilda“ einen sehr fesselnden Roman vorgelegt, der mit seinem flüssigen und gefühlvollen Erzählstil den Leser mit der ersten Silbe in den Plot katapultiert, um erst wieder aufzutauchen, wenn die letzte Zeile gelesen ist. Die Autorin versteht es wunderbar, farbenprächtige Landschaftsbeschreibungen mit mystischen Überlieferungen zu vermischen und den von ihr gut recherchierten historischen Hintergrund miteinfließen zu lassen. Der Leser begleitet Rachel nicht nur auf einen Umzug nach Schottland, sondern auch auf eine seit fast 90 Jahren verlassene Insel, die als Touristenmagnet gilt und mit ihrer rauen, schroffen Schönheit sowie überlieferten Geschichten zu faszinieren weiß. Rachel hat die Insel durch die Erzählungen ihrer Großmutter Annie kennengelernt, aber erst als sie selbst die Insel betritt, versteht sie die Sehnsucht von Annie und deren Geschichten richtig, denn auch Rachel kann sich dem Sog der Insel nicht entziehen. Durch unregelmäßige wechselnde Erzählperspektiven darf der Leser nicht nur Rachels Leben begleiten, sondern auch die Vergangenheit von Annie 90 Jahre zuvor erleben. Das fast schon spartanisch zu nennende Leben auf der Insel und die ständige Abhängigkeit von Wind und Wetter, die den Bewohnern alles abverlangte, wird von der Autorin sehr plastisch geschildert und damit zum Leben erweckt. Die eingefügte Schatzsuche lässt den Leser gemeinsam mit Rachel auf die Suche gehen und verbindet Vergangenheit mit Gegenwart auf wunderbare Weise. Der Spannungslevel ist zwar nicht sehr hoch angelegt, doch die mystische Präsenz der Insel und deren Auswirkung auf die einzelnen Workshop-Teilnehmer lässt einen das Buch kaum aus der Hand legen.

Die Charaktere wurden liebevoll ausstaffiert und mit Leben versehen. Sie besitzen glaubhafte Ecken und Kanten und gewinnen gerade deshalb schnell das Herz des Lesers, der ihnen nahe kommen darf, um ihre Gedanken- und Gefühlswelt genau zu erkunden. Rachel ist eine vom Schicksal gebeutelte Frau, die sich immer am Rand des Existenzminimums bewegt. Sie ist eine überfürsorgliche Mutter, die ihren Sohn kaum aus den Augen lässt. Das lässt sie oftmals ungerecht und herrisch wirken, vor allem ihrer Großmutter gegenüber. Annie ist eine alte Dame, die schon in der Kindheit Entbehrung und ein hartes Leben kennengelernt hat. Sie ist eine gute Seele, die sich seit der Evakuierung irgendwie heimatlos fühlt und vor allem ihre alte Kinderliebe Finlay vermisst. Ailic ist ein berühmter Fotograf, der neben einem schweren Verlust auch noch körperliche Einschränkungen verkraften muss, die sein Leben von Grund auf änderten. Er ist ein unruhiger Geist, der manchmal in Selbstmitleid zerfällt, sich dann aber doch zusammenreißt und über sich hinaus wächst. Aber auch die vorlaute Yi, die pragmatische Cynthia sowie der Rest der Workshop-Gruppe bereichern die Handlung mit ihren Auftritten und machen sie durchweg gelungen.

„Sehnsucht nach St. Kilda“ ist ein wunderbarer geschichts- und gefühlsträchtiger Roman, der mit den ersten Seiten einen Sog entwickelt, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Neben historischen und mystischen Elementen gibt es auch zwei unterschiedliche Liebesgeschichten und vor allem die Suche nach sich selbst, die den Leser bewegt. Verdiente Leseempfehlung für einen Pageturner!