Rezension

Die ganz normalen Abgründe der Geltungssucht

Das Paar aus Haus Nr. 9 - Felicity Everett

Das Paar aus Haus Nr. 9
von Felicity Everett

Bewertet mit 4 Sternen

Auf manchen Webseiten wird das Buch als Krimi, Thriller oder Spannungsliteratur vermarktet – in meinen Augen nein, nein und auf gar keinen Fall. Die Geschichte entwickelte für mich zwar durchaus Spannung, aber Spannung einer gänzlich anderen Art: ich würde das Buch am ehesten als Gegenwartsliteratur mit subtiler Dramatik, Gesellschaftskritik und sogar ein wenig leiser Tragik einschätzen.

Mit den beiden Ehepaaren – Sara und Neil, Gavin und Lou – treffen zwei grundverschiedene Lebensentwürfe aufeinander. Die einen haben sich wohlig in ihrer spießbürgerlichen Normalität eingerichtet, die anderen sind Künstlernaturen, die kompromisslos ihre persönlichen Träume leben.

Sara verfällt der Idee dieses anderen Lebens direkt und rettungslos.

Kaum hat sie Lou kennengelernt, begehrt sie deren Art zu leben auch schon mit erschreckender Inbrunst. Ihr eigenes Leben kommt ihr auf einmal bedeutungslos vor, langweilig und unerfüllt. Deswegen klettet sie sich geradezu an ihre neue Freundin, ist stolz auf jeden noch so winzigen Beweis ihrer Gunst, giert nach ihrem Lob und streift ihre alten Freunde ab wie schmutzige Wäsche.

Ich ertappte mich bei mitleidiger Verachtung: Sara kam mir erbärmlich vor mit ihren Versuchen, sich anzubiedern und damit in die begehrten Künstlerkreise einzuschleichen, um nicht zu sagen einzuschleimen. Sie kleidet sich anders, sie redet anders, sie versucht, darüber hinwegzutäuschen, dass sie oft nicht die geringste Ahnung hat, wovon ihre neuen Freunde reden. Sie lässt sich hemmungslos ausnutzen und ist noch dankbar dafür.

Schon bald ist an ihr nichts mehr echt, auch wenn ihr das selbst nicht bewusst ist.

Unweigerlich verfällt auch ihr Mann Neil den neuen Nachbarn und strebt nach dem vermeintlich Höherem, was doch nur schöner Schein ist. Denn als Leser wird einem immer mehr klar: Gavin und Lou sind keineswegs so unverfälscht, wie sie auf den ersten Blick wirken.

Die Charaktere sind meines Erachtens sehr gut geschrieben. So nach und nach schält die Autorin die verschiedenen Schichten ihrer nach außen getragenen Pseudo-Persönlichkeit zurück, um ihr wahres Wesen zu enthüllen – sympathisch sind sie jedoch nicht. Normalerweise tue ich mich schwer mit Büchern, die mir keine Identifikationsfiguren bieten, aber hier mochte ich niemanden wirklich und konnte das Buch dennoch kaum mal beiseite legen. Dabei hat die Geschichte nur wenig Struktur, verläuft über lange Passagen plan- und ziellos, aber sie entwickelte für mich eine ungeheure Sogwirkung.

Es war eine widerwillige Faszination –  ich fühlte mich beinahe wie ein Gaffer bei einem Verkehrsunfall.

Aber manchmal fragte ich mich unbehaglich: ist Sara wirklich so anders, als ich es bin? Habe ich noch nie etwas getan, um jemandem zu imponieren, oder mich verstellt, um besser dazustehen? Ich glaube, darin liegt das Geheimnis des Buches: man kann sich zumindest bis zu einem gewissen Grad in den Charakteren wiederfinden, auch wenn es einem erst erscheint wie ein Zerrbild. Irgendwann wandelte sich meine Verachtung in Mitleid und Sympathie.

Den Schreibstil finde ich großartig, denn er schafft das Kunststück, Sara in ihrem Versagen, sich neu zu erfinden, authentisch erscheinen zu lassen. Ihr Scheitern ist das Menschlichste, das Echteste an ihr.

FAZIT

Sara und Neil, die es sich in ihrer kleinbürgerlicher Idylle gemütlich eingerichtet haben, treffen auf das unkonventionelle Künstlerehepaar Gavin und Lou. In Sara entflammt ein jäher Wunsch, ihr kleines Leben bedeutungsvoller zu machen, indem sie ihre neue Nachbarin nachahmt.

Was klingt wie der Beginn eines Thrillers, ist es nicht. Es ist nur die Geschichte verschiedener Menschen, die etwas anderes sein wollen, als sie sind – die mehr sein wollen, ohne sich im Klaren zu sein, dass sie sich nicht neu erfinden können. Obwohl ich die Charaktere nicht mochte und die Geschichte ihre Längen hat, fand ich sie seltsamerweise unwiderstehlich.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/2018/08/18/rezension-felicity-everett-da...