Rezension

Die Psyche eines Mörders

Die Haarmann-Protokolle -

Die Haarmann-Protokolle
von

Bewertet mit 5 Sternen

»Am folgenden Morgen gestand Haarmann noch einen 8. Mord ein, nachdem wir ihn an Hand einer von ihm verkauften, von Vermißtenangehörigen anerkannten Hose entsprechende Vorhaltungen machten. Die Leichen will Haarmann mit scharfen Küchenmessern zerkleinert, an den Gelenken gelöst und dann das Fleisch von den Knochen geschabt haben. An den bei der Durchsuchung beschlagnahmten Messern hatte man bereits alle 4 menschlichen Blutgruppen festgestellt. Die Knochen wurden von ihm Abends in der Aktentasche zur nahe gelegenen Leine transportiert, das Fleisch warf er zerkleinert in seinen Abort, ebenso die Gedärme und die Bauchinnenteile mit dem dort angesammelten Blut. Die Schädel hatte er anfangs auf einem Pflasterstein, den wir bei der Durchsuchung blutbefleckt mit allen 4 Blutgruppen in seiner Dachbuze fanden, zertrümmert. Als Nachbarn sich über das Klopfen beschwerten, skelettierte er die Köpfe, um sie unkenntlich zu machen, und warf sie in die Leine.«

Fritz Haarmann dürfte jedem ein Begriff sein. Im Zeitraum von September 1918 bis Juni 1924 tötete er in Hannover mindestens 24 junge Männer, zerstückelte ihre Leichen und entsorgte sie größtenteils in der Leine. Die Kleidung seiner Opfer verkaufte er. Außerdem betrieb er einen Handel mit Fleisch. Mutmaßungen, dass es sich dabei um das Fleisch der getöteten Männer gehandelt hat, konnten aber nicht bewiesen werden und er selbst hat dies konsequent bestritten.

Am 19.12.1924 erging vor dem Landgericht Hannover das Todesurteil wegen Mordes in 24 Fällen.

 

Dieses Buch befasst sich umfassend mit der Zeit nach Haarmanns Verhaftung. Die Autorin hat dazu die Erinnerungen des zuständigen Kriminalinspektors, eines Strafverteidigers, eines zeitgenössischen Psychologen, Auszüge aus der Krankenakte und das Gerichtsurteil zusammengetragen. Außerdem befasst sie sich ausführlich mit den Protokollen der psychiatrischen Gespräche und endet mit einem psychiatrischen Kommentar. Christine Pozsár war selbst Psychiaterin und legte früh ihren Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit dem Gebiet der forensischen Psychiatrie. Sie schrieb Arbeiten über Bewusstseinsstörungen, die Therapie sexueller Deviationen und über Pädagogik in der forensischen Psychiatrie. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 war sie Oberärztin an der Abteilung Forensische Psychiatrie des Landeskrankenhauses Göttingen.

 

Wie oft fragt man sich, nachdem man mal wieder eine Meldung über einen Massenmörder gelesen oder gehört hat, was wohl in dessen Kopf so vor sich geht. Viele dieser Menschen können nicht mehr befragt werden, da sie nach ihren Taten Selbstmord begingen. Fritz Haarmann wurde verhaftet und verhört, zudem wurden zahlreiche psychiatrische Gespräche geführt. Die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, muten allerdings aus heutiger Sicht sehr fragwürdig an.

 

Aber beginnen wir mal zunächst mit den Erinnerungen des zuständigen Kriminalinspektors, die ein Licht auf die damaligen Verfahrensweisen werfen.

»Ich hatte streng verboten, Haarmann irgendwie unkorrekt zu behandeln. … Ebenso untersagte ich bis zu dem zu erwartenden Geständnis jede Vergünstigung von Nahrungs- und Genußmitteln. … In seiner Zelle hatten wir die 4 gefundenen Köpfe, in jeder Ecke einen hoch oben auf Brettchen befestigt, die Augenhöhlen mit rotem Papier beklebt, dahinter ein Wachslicht, das Nachts brannte. In einer Ecke der Zelle, in einem Sack, lagen Menschenknochen, die wir in unmittelbarer Nähe der vorletzten Wohnung des Haarmann aus der Leine gefischt hatten. Darauf wiesen wir bei den Vernehmungen Haarmann immer wieder hin und brachten zum Ausdruck, daß die Seelen der Toten zu den Gebeinen zurückfinden und ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen würden, bis er seine Verbrechen gestanden habe. Dies hat dazu beigetragen, ihn mürbe und geständnisreif zu machen, wie Haarmann, der im Grunde wie viele Homosexuelle eine feige Natur war, mir später nach dem Geständnis erklärte.«

 

Die weiteren Ausführungen lassen teilweise ebenfalls tief blicken (»Drei Schwestern sind wegen Abnormitäten im Sexualleben geschieden worden«), allerdings formuliert er auch einen berechtigten Vorwurf:

»Den erheblichsten Vorwurf, daß Haarmann sein Treiben solange ungehindert fortsetzen konnte, muß man aber seinen Mitbewohnern machen, mit denen er in 3 verschiedenen Wohnungen seit 1918 z.T. Wand an Wand wohnte, und die durch viele Erscheinungen auf die Vorgänge in Haarmanns Zimmer mißtrauisch gemacht wurden. Z.B. folgendes: Haarmann brachte regelmäßig das Blut und das Bauchinnere in einem mit blauer Schürze verdeckten, stark riechenden Eimer in das von 3-4 Mietern der gleichen Etage benutzt WC, das sich dabei oft derart verstopfte, daß Haarmann mit einem Draht nachhelfen mußte. Die Köpfe der Ermordeten klopfte er in den ersten Jahren spät abends auf einem Pflasterstein in seiner Wohnung entzwei, um sie in der Aktentasche transportieren zu können. Beschwerden über dadurch verursachte Ruhestörung tat er mit dem Hinweis auf Selbstbesohlung seiner Schuhe ab.«

 

Auch der Psychologe Professor Theodor Lessing aus Hannover sah eine Mitschuld der Bevölkerung (»Unser aller Schuld«). Er war ein sehr aktiver Kritiker sowohl der Ermittlungsarbeit, des Verfahrensablaufs, des für die Verurteilung maßgeblichen Gutachtens und des Todesurteils. Er prangerte eine Mitschuld der Behörden daran an, dass Haarmann so spät überführt wurde und die Zahl der Opfer deshalb so groß werden konnte.

»Daß dieses Ungeheuer unschädlich gemacht werden muß, steht wohl für jeden fest. Und das wird auch geschehen, verlassen Sie sich darauf. Sie können das nicht verhindern, dürften es meiner Meinung nach auch gar nicht … Aber verhindern müßten Sie, daß die ungeheure Schuld verschwiegen wird, die unsere Gesellschaft an dem Fall Haarmann trifft. … Auch die Polizei, unter deren Augen und in deren Dienst Haarmann seine Opfer angelockt hat. … Auch die Psychiater, die den mehrfach wegen Sittlichkeitsverbrechen Vorbestraften immer wieder für normal erklärt und auf die Menschheit losgelassen haben. … All das wird man in der Verhandlung ängstlich zu vertuschen suchen. Und das gilt es zu verhindern.«

Lessing war zunächst als Prozessbeobachter zugelassen, am 11. Prozesstag wurde ihm jedoch aufgrund seiner kritischen Anmerkungen die weitere Teilnahme untersagt. (»Wir können hier keinen Herrn dulden, der Psychologie treibt.«) Es folgte ein Disziplinarverfahren, Lessing floh in die Tschechoslowakei, wurde dort aber 1933 von einem SS-Kommando aufgespürt und ermordet.

 

Die Krankenakte Haarmanns setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem er ungefähr 16 Jahre alt war. Es gab reichlich Auffälligkeiten, Diagnosen wie „epileptisches Irresein“, „Nervenschwäche“, „Jugendirresein“ und „krankhafte Neigung zu unzüchtigen Handlungen“, weswegen er als gemeingefährlich eingestuft und in die „Idiotenanstalt Langenhagen“ eingewiesen wurde. Kopfschüttelnd blätterte ich hierhin zurück, als ich später das abschließende Gutachten las.

 

Sehr umfangreich sind schließlich die Protokolle der psychiatrischen Gespräche. Ein paar Eindrücke aus über 350 Seiten habe ich hier mal ausgewählt:

»Ich weiß doch gar nicht, wie viele es waren. Nun sagen die Kriminalbeamten, es waren siebenundzwanzig. Sie zeigen mir Bilder und sagen, den hast du auch aufm Gewissen. Aber ich kenne den nicht. Und dann sage ich: „Vielleicht habe ich nicht siebenundzwanzig umgebracht, sondern dreißig oder vierzig. Aber den auf dem Bild da bestimmt nicht. Doch wenn es Sie beruhigt“, sage ich, „dann schreiben Sie ihn dazu.“ Hahaha!«

»Wenn wir die Hühner schlachteten, mochte die keiner essen – die haben wir immer weggeschenkt. … Da kam immer der Friseur Edel, und jedes Jahr mußte er kommen und so viele abschlachten wie wir Küken hatten. Ich konnte das nicht sehen – wir kniffen immer aus, wenn der kam schlachten – kann ich heute noch nicht sehen!

Aber Sie haben doch Menschen geschlachtet?

Nee, nee, die waren tot und da habe ich sie wegbringen müssen – das sagen die immer draußen.«

»Die waren tot – die habe ich totgebissen – das kommt vom Küssen.«

»Wenn ich mal wieder einen habe, sollen Sie mal sehen, wie ich das mache – das ist doch so einfach.«

»Warum immer wieder Jungen umgebracht?

Wenn ich mir jetzt fest vorgenommen habe, du nimmst jetzt keinen wieder mit und ging ich dann auf die Straße, dann kommt der eine, dann kommt der andere, dann sagen sie: Fritz, dann fangen sie immer wieder von so was an. Schließlich komme ich dann mal auf den Bahnhof und dann sagen sie zu mir: och Fritz – die wissen doch nichts – nimm mich doch mit. Dann war schlechtes Wetter und dann habe ich sie mitgenommen, dann waren sie froh, wenn sie bei mir schlafen konnten und etwas zu essen hatten. Wenn ich dann so einen mitnahm, poussierten sie immer so schön, mitunter ging das ganze Wochen gut und dann passierte mal wieder was, dann war wieder was passiert.«

»Herr Kommissar Rätz soll mal kommen, wir wollen doch bald Verhandlung machen, das machen wir ganz kurz. Wenn Gericht ist, will ich sagen: (stellt sich in Positur) Meine Herren, ich bin schuldig, ich habe ein Geständnis abgelegt, wir wollen es kurz machen, daß es endlich doch ein Ende hat, das regt mich so sehr auf – und wenn ich geköppt werde – (legt sich weit über den Tisch, macht den Hals lang) die Welt wird staunen – habe ich A gesagt, muß ich auch B sagen. Das ist doch ein Mord, wenn ich einen tot gemacht habe – ich will keinen Rechtsanwalt haben, nichts haben. … Der Rechtsanwalt will mich doch verteidigen, das will ich nicht, der kommt mit Hildesheim und solchen Sachen, das gehört hier nicht her – das Köppen – und damit fertig. Dann kommt nachher das Denkmal, dann kommt da drauf: Die Opfer des Massenmörders Fritz H., geboren 1879 – dann kommen sie alle und sehen sich das an, in 100, in 1000 Jahren noch, das ist doch schön, - wenn ich so gestorben wäre, dann wäre ich beerdigt und keiner hätte mich gekannt, so aber – Amerika, China, Japan und die Türkei, alles kennt mich.« (Anmerkung: „Hildesheim“ meint, die dortige „Heil- und Pflegeanstalt“ mit der „Abteilung für Geisteskranke“. Dort war Haarmann als 17jähriger und fürchtete scheinbar den Tod weniger als eine erneute Einweisung dorthin.)

 

Das Gerichtsurteil schließt sich an mit vollständiger Urteilsbegründung. Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit galt damals § 51 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871:

»Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.«

 

Der Gutachter Ernst Schulze war Leiter der Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen. Über einen Zeitraum von sechs Wochen führte er dort Gespräche mit Haarmann und bescheinigte ihm anschließend volle Zurechnungsfähigkeit. Bezeichnend ist, dass bereits zu Beginn der Gespräche das Todesurteil als feststehend betrachtet und thematisiert wurde. Ferner bezeichnete Schulze Haarmann als „minderwertigen Menschen“ und als „in moralischer Beziehung ungewöhnlich tief stehend“.

In ihrer Beurteilung aus heutiger Sicht führt die Autorin zahlreiche Unterlassungen und Fehler des Gutachters auf, nennt beispielsweise, dass auf die erheblichen Auffälligkeiten in Haarmanns Kindheit überhaupt nicht eingegangen wird und dass keine Sexualanamnese erhoben wurde. Schulzes Sicht fasst sie vereinfacht zusammen:

»Wenn die sexuellen Kontakte Haarmanns zu Tötungsdelikten führen konnten, so hätte Haarmann diese Kontakte einfach unterlassen müssen.«

Das Gutachten befasst sich auch nur pauschal mit der körperlichen Untersuchung und schließt eine organische Gehirnerkrankung aus. Tatsächlich wurde aber bei der nach seiner Hinrichtung erfolgten Untersuchung des Gehirns eine abgelaufene Hirnhautentzündung festgestellt, für deren Auftreten es sowohl in alten Krankenakten als auch durch Haarmanns Äußerungen diverse Hinweise gab. Schulze tat vieles als „Schauspielerei“ ab und wertete auch die von Haarmann und einigen Aufsehern geschilderten Krampfanfälle entsprechend.

 

Das Todesurteil wurde vollstreckt am 15. April 1925.

 

Fazit: Umfangreich, detailliert. Sehr lesenswert für jeden, der sich genauer mit der Psyche eines Mörders und den sich wandelnden Ansichten im Bereich der forensischen Psychiatrie auseinandersetzen möchte.

 

»Ich habe in der Cellerstr. Friedel umgebracht wir haben Pussirt des Morgens lag Friedel tot im Bett und ich hatte Fridel tot gebissen ich habe sehr geweint und wusste nicht was ich machen sollte und dann habe ich Fridel Beerdigt und kaput geschnitten und dann habe ich keine Jungens mehr umgebracht weil Emma [Schwester] aufpasste. Als ich Hans kennen lernte ging es auch noch aber als ich meine strafe abmachen musste und wieder kam hatte ich mich sehr geärgert weil Hans alles verkauft hatte und dann brachte Er immer die Weiber mit und Alles Geld ging flöten und immer hat mich Hans geärgert dann wird mann Nervöss und Krank ich wollte ja keinen Umbringen aber immer ab und zu war wieder einer Tod wenn ich nun geköpft werde schadet es auch nichts ich freue mich dann habe ich Ruh.« (Fritz Haarmann)