Rezension

Die unbekannte Brautjungfer

Das dunkle Kind - Margaret Forster

Das dunkle Kind
von Margaret Forster

Julia ist Kinderpsychologin. Immer wieder werden Mädchen zu ihr gebracht, die Probleme bereiten: Sie schlagen, erpressen, laufen weg, stehlen... Julia kann sich gut in sie einfühlen und manchmal Lösungswege aufzeigen - denn auch sie hatte als Kind Schwierigkeiten: Nach dem frühen Tod ihres Vaters lebte sie allein mit ihrer Mutter, die ständig herumkommandiert und nörgelt; Anerkennung, Zärtlichkeit oder gar Liebe erlebt sie nicht. Wie nett ist dagegen ihre ältere Cousine Iris, bei deren Hochzeit sie die Brautjungfer sein darf! Doch eines Tages fährt sie trotz Verbot mit Iris Baby spazieren und der Kinderwagen kippt um. Das Baby verschläft den Sturz und hat keine Wunden, und so stellt Julia den Kinderwagen einfach wieder zurück und verschweigt ihren Ausflug. Am nächsten Tag ist das Baby tot. Hat sie den Tod verursacht? Julia ist zutiefst verunsichert und hat starke Schuldgefühle, doch kann sie mit niemandem darüber sprechen. Im weiteren Verlauf ihrer Kindheit erlebt sie weitere Belastungen und entwickelt viele dissoziale Verhaltensweisen. 

Das Buch wechselt zwischen zwei Erzählsträngen: Der eine betrifft Julias aktuelles Leben - in ihm werden in kurzen Blitzlichtern die verschiedenen Mädchen vorgestellt, mit denen sie arbeitet, dazu einige Fälle aus ihrer Arbeit als Friedensrichterin. Der andere Erzählstrang folgt Julias Leben von der Kindheit bis heute. Hier kann der Leser nach und nach Julias Entwicklung nachvollziehen. Für mich war es faszinierend, den Weg von dem zurückhaltenden und einsamen kleinen Mädchen zu der Jugendlichen zu verfolgen, die ein anderes kleines Mädchen, das sie vergöttert, quält. Während ich zunächst Mitleid mit Julia empfand, wandelte sich das immer mehr. Aber wo genau wird das Opfer zum Täter? Und ist sie verantwortlich für das Leid, das sie anrichtet? Obwohl sie als Erwachsene beruflich erfolgreich ist und sich emporgearbeitet hat, ist sie dennoch nicht in der Lage zu echten Beziehungen - weder zu den Kollegen noch zu einer ehemaligen Kindheitsfreundin noch zu ihrer Cousine und deren Familie; eine eigene Ehe scheitert schnell. Äußerlich hat sie es geschafft, doch innerlich?

Das Buch hinterlässt bei mir zwiespältige Gefühle. Julia als Kind tut mir leid; als Jugendliche ist sie eine Zumutung. Als Erwachsene ist sie erfolgreich, doch kann sie immer noch keine Beziehungen eingehen. Der äußere Schein kann also trügen. Was heißt das nun? Muss ich Verständnis für einen Hooligan haben, der jemand anderen zusammenschlägt, weil er eine schwere Kindheit hatte? Wo genau verläuft die Grenze? Und wo verursache ich selbst Verletzungen, ohne es gewollt zu haben? Ein Buch, das zum Nachdenken anregt.